Année politique Suisse 1984 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Eisenbahn
Wie bereits dargelegt, hat der Eisenbahnverkehr längerfristig betrachtet an relativer Bedeutung verloren. Dies heisst jedoch nicht, dass er am Wachstum des Gesamtverkehrsvolumens nicht teilhaben würde. Beim Personenverkehr legten die SBB im Vergleich zum Vorjahr im Binnenverkehr 0,8% zu; befördert wurden 218 Mio Personen (+42 Mio Personenkilometer). Beim Güterverkehr konnten die Bundesbahnen eine Zunahme von 4,7% in Tonnen (+ 7,6% in Tonnenkilometern) verzeichnen [23].
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Neue Linien
Beim Ausbau der Infrastruktur ist man von der bevorzugten Förderung einzelner Linien wieder abgekommen. Im Berichtsjahr wurde das Vernehmlassungsverfahren für die «Neuen Haupttransversalen» (NHT) zwischen Lausanne und St. Gallen sowie zwischen Basel und Olten abgeschlossen. Nach Ansicht des EVED ist die Zweckmässigkeit der neuen Strecken positiv beurteilt worden. Unterstützung fanden die Vorschläge des Expertenberichts bei einem Grossteil der Wirtschaftsverbände und Fachorganisationen, bei einer Mehrheit der westschweizerischen Stände und im Kanton Zürich. Die ostschweizerischen Kantone sowie der Aargau lehnten dagegen eine einseitige Förderung der Verbindungen zwischen Ballungsgebieten ab. Der Verwaltungsrat der SBB beurteilte die eingegangenen Reaktionen als Abkehr vom NHT-Projekt. Mit dem Konzept «Bahn 2000» will er der vorgetragenen Kritik Rechnung tragen. Für die am stärksten umstrittene Linienführung, diejenige zwischen Bern und Zürich, wurde vor allem ein Vorschlag des VCS zur weiteren Prüfung empfohlen: soweit als möglich sollte die Eisenbahn parallel zu einer Autobahn gebaut werden [24].
Ahnliche Tendenzen machten sich auch im Parlament bemerkbar. Beide Kammern nahmen zur Kenntnis, dass der Bundesrat eine Dringlichkeit für die von der GVK geforderten neuen Eisenbahn-Alpentransversalen in diesem Jahrhundert nicht mehr sieht. Der. Nationalrat überwies ein Postulat, welches Abklärungen über den Ausbau der Verbindung Bern-Basel verlangt. Um die durch die Doppelspur der Linie Bern-Lötschberg-Simplon entstehenden neuen Kapazitäten voll nutzen zu können, sollen Anschlussmöglichkeiten in der ganzen Nordwestschweiz geprüft werden [25].
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SBB
Als Leitgedanke für die SBB-Politik behielt der 1982 durchgesetzte Leistungsauftrag seine gestaltende Wirkung. Im Berichtsjahr waren insbesondere Spar- und Marketingmassnahmen festzustellen. Ebenfalls wurden der Verwaltungsrat und die dreiköpfige Generaldirektion teilweise neu besetzt. Entsprechend den Empfehlungen einer betriebswirtschaftlichen Expertise war der Bundesrat bestrebt, die privatwirtschaftliche Vertretung in diesen Gremien zu verstärken. Dagegen lehnte er eine vollständige Neukonzipierung der Verwaltungsratsaufgaben ab [26].
Das unternehmerische Jahresprogramm der neuen Generaldirektion zeichnete sich beim Personenverkehr durch Initiativen bei den Tarifen, dem Fahrplanangebot und den Dienstleistungen aus [27]. Dabei blieben die beiden ersten Bereiche von einer politischen Kritik nicht verschont. Der Vorschlag für eine dreiprozentige Tariferhöhung fand im Verwaltungsrat der SBB und bei den Privatbahnen vorerst keine Unterstützung; diese schätzten den Ertrag im Verhältnis zum Aufwand für zu gering ein. Der Verwaltungsrat der Bundesbahnen war aus Rücksicht auf die umweltpolitischen Forderungen an den öffentlichen Verkehr bereit, auf Mehreinnahmen aus den Tarifen zu verzichten. Die Generaldirektion bestand aber auf ihrem Anliegen und kündigte für den 1. Mai 1985 eine fünfeinhalbprozentige Erhöhung an. Sie sah diese Massnahme durch die Inflation gerechtfertigt. Weiter erwartete sie von ihr eine Verringerung des Defizits um rund 50 Mio Fr. In politischen Kreisen lösten die angekündigten Tarifänderungen teilweise lebhaften Widerspruch aus. Da das Parlament keine Möglichkeit besitzt, direkt auf die Preise der Bundesbahnen Einfluss auszuüben, musste die Beratung des Budgets 1985 zum Prüfstein für die Tariferhöhungen werden. Nachdem im Ständerat nur die Linke opponiert hatte, wurden in der Plenumsverhandlung der grossen Kammer gleich von vier Seiten Rückweisungsanträge eingereicht. Nationalrat Bircher (sp, AG), dessen Antrag in der Eventualabstimmung obsiegte, plädierte angesichts des Waldsterbens für eine rasche Wende in der defensiven Tarifpolitik; neue Ertragsausfülle sollten aus der allgemeinen Bundeskasse bezahlt werden. In der Abstimmung unter Namensaufruf unterlag sein Vorstoss mit 84:87 Stimmen bei 5 Enthaltungen nur knapp; unterstützt wurde er von den Sozialdemokraten, dem Landesring, den Grünen sowie der äussern Linken und Rechten. Zugunsten des Eintretens stimmten die Mitglieder der drei bürgerlichen Fraktionen; mit ihrer Haltung folgten sie der Kommissionsmehrheit, welche die Tarifgestaltung unter die unternehmerischen Aufgaben und damit in die Verantwortlichkeit der SBB-Leitung einreihte. Angenommen wurde dagegen die Empfehlung einer Reduktion der geplanten übermässigen Erhöhung bei den Preisen für Schüler-, Lehrlings- und Pendlerabonnemente [28].
Eine kleinere politische Kontroverse entstand um den Fahrplanentwurf 1985/87. Die Generaldirektion kündigte an, auf eine stattliche Zahl von Regionalzügen zu verzichten, da sie zuwenig ausgelastet seien. Kritisiert wurde diese Massnahme vor allem durch die Behörden der betroffenen Regionen. Anklang fanden dagegen die von der SBB-Leitung eingeführten neuen Dienstleistungen im Personenverkehr. So wurden die Möglichkeit, am Bahnhof ein Auto zu mieten, sowie eine SBB-Kundenkarte zum bargeldlosen Bezug. von Fahrkarten mit Erfolg lanciert. Weiter führten die Bundesbahnen ein unpersönliches Generalabonnement in das Angebot ein. Versuchsweise werden auch spezielle Wagen für Kleinkinder, jugendliche Gruppen und Familien getestet [29].
Im Bereich des Güterverkehrs bereinigte die Generaldirektion das Stückgut-Konzept «Cargo-Domizil». Die betrieblichen, organisatorischen und tariflichen Veränderungen sollen ab 1985 wirksam werden. Den Kritiken von seiten der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften sowie verschiedener Regionalvertreter wurde bei der endgültigen Ausgestaltung nur wenig Rechnung getragen ; es wurden lediglich geringfügige Änderungen bei der Auswahl von 146 Regionalzentren vorgenommen. Der Öffentlichkeit vorgestellt wurde im Berichtsjahr ein neues Programm für den kombinierten Verkehr. Damit sollen die unternehmerischen Massnahmen im Bereich des Güterverkehrs abgerundet werden [30].
Als Folge der Bemühungen, den Leistungsauftrag in die Tat umzusetzen, wertete die Leitung der Bundesbahnen die deutlich verbesserte SBB-Rechnung für 1984. Der Fehlbetrag war mit 304 Mio Fr. um 128 Mio Fr. niedriger als 1983 und um 133 Mio Fr. geringer als im Budget. Während der Aufwand praktisch auf dem Vorjahresstand blieb (-0,1 %), konnte mit 3,73 Mia Fr. eine Ertragssteigerung von 3,4% erzielt werden. Die für die Beurteilung der Eigenwirtschaftlichkeit bedeutsame Aufwanddeckung wurde damit auf 92,5% gesteigert (1983: 89,3 %). Positiv bewertet wurde, dass die Bundesbahnen erstmals seit geraumer Zeit wieder von einem Cashflow sprechen können. Trotz der verbesserten Bilanz beurteilte der Präsident der Generaldirektion die finanzielle Lage als unbefriedigend. Die Bundesbahnen wollen alles unternehmen, um das budgetierte Defizit von 421 Mio Fr. für 1985 dem Rechnungsabschluss von 1984 anzunähern. Die totalen Aufwendungen des Bundes für seine Bahnen beliefen sich unter verschiedenen Titeln auf 1,1 Mia Fr. [31].
Trotz dieser aus unternehmerischer Perspektive positiven Entwicklung mehrten sich die Kritiken am Leistungsauftrag als Grundlage der SBB-Politik. Dabei standen Fragen des Umweltschutzes und der Finanzierung von Eisenbahnleistungen im Vordergrund. Sekundär spielten Klagen über Stellenabbau, zunehmende Arbeitsbelastung im Gefolge der Rationalisierungen sowie regionalpolitische Fragen eine Rolle [32]. Kurzfristigen Druck auszuüben versuchte die SP-Fraktion mit der Ankündigung parlamentarischer Vorstösse zur Tarifgestaltung. Damit will sie die Exekutive verpflichten, die Preispolitik nicht nur nach betriebswirtschaftlichen, sondern auch nach umwelt- und energiepolitischen Überlegungen zu beurteilen. Im Hinblick auf einen neuen Leistungsauftrag ab 1987 lehnten die Sozialdemokraten die Forderung nach Eigenwirtschaftlichkeit der Eisenbahnen ab [33]. Als langfristiges und umfassenderes Instrument verstand der Landesring eine von ihm lancierte Volksinitiative «zur Förderung des öffentlichen Verkehrs». Darin werden weitgehend die GVK-Forderungen für eine verbesserte Infrastruktur aufgenommen. Neu ist dagegen die vorgeschlagene Finanzierung: Diese soll aus Treibstoffzöllen getätigt werden; die jährlich zu erwartenden rund 800 Mio Fr. sollen auch für die Bildung von günstigeren Tarifen Verwendung finden. Als erste Partei beschloss die SP, die «SBB-Initiative» des Landesrings zu unterstützen und auf ein eigenes Volksbegehren im Verkehrsbereich zu verzichten. Eine Annahme des vorgeschlagenen Artikels würde eine Revision der 1983 beschlossenen Neugestaltung der Treibstoffzölle und der gegenwärtig in Beratung stehenden Ausführungsgesetzgebung bedingen. Im weitern wäre die im Berichtsjahr eingeleitete Totalrevision des Eisenbahngesetzes, welche unter anderem die Tarifbildung im Sinne des Leistungsauftrages fixieren soll, betroffen [34].
 
[23] Presse vom 2.3.85.
[24] Bericht über die Vernehmlassung zur Zweckmässigkeitspritjung der NHT, hrsg. vom EVED, Bern 1984. Beurteilung durch BR: Gesch.ber., 1984, S. 312; BaZ, 13.9.84. Beurteilung durch SBB: NZZ, 22.6.84; vgl. auch H. Eisenring, «Von der NHT zu einem netzweiten attraktiven Bahnangebot», in Jahrbuch der schweizerischen Verkehrswirtschaft, 1984, S. 21 ff. sowie Aktuelles Bauen, 19/1984, S. 24 ff. Das «Aktionskomitee gegen die NHT» kündigte ein Referendum an flr den Fall, dass die eidg. Räte das NHT-Konzept gutheissen (Bund, 27.4.84); vgl. auch SZ, 21.8.84; 25.9.84. Siehe ferner SPJ, 1983, S. 114.
[25] Alpentransversale: BBl, 1984, III, S. 1165; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 572; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 600; Presse vom 8.9.84 und 28.11.84. Vgl. auch H.J. Bertschi, Der alpenquerende Verkehr — dargestellt am Ausbau einer neuen Eisenbahntransversalen durch die Schweiz, Diss. St. Gallen 1985 ; vgl. SPJ, 1983, S. 114. Postulat: Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1425; Suisse, 25.9.84; Presse vom 6.10.84.
[26] Neubesetzung: Presse vom 12.1.84; NZZ, 21.1.84. Expertise: vgl. SPJ, 1983, S. 114.
[27] Überblick: TA, 21.1.84.
[28]Tariferhöhungen: Presse vom 24.2.84; 6.11.84; TW, 12.3.84; BaZ, 10.10.84; NZZ, 22.11.84; 24.11.84. Haltung des BR: Gesch.ber., 1984, S. 313 f. SBB-Voranschlag: BBl, 1984, III, S. 970; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 608; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1770, 1798; vgl. auch Presse vom 28.11.84; 12.12.84.
[29] Fahrplanentwurf: NZZ, 31.10.84; BaZ, 16.11.84. SBB-Dienstleistungen: TA, 29.2.84; Presse vom 8.6.84; SHZ, 18, 3.5.84.
[30] Cargo Domizil: NZZ, 22.3.84; TA, 4.12.84. Entwurf und Kritik: vgl, SPJ, 1983, S. 114 sowie exemplarisch für regionale Reaktionen: Vat., 29.1.84; NZZ, 31.1.84. Kombinierter Verkehr: TA, 29.8.84; NZZ, 17.8.84; vgl. auch H.J. Bertschi, «Der kombinierte Verkehr», in Jahrbuch der schweizerischen Verkehrswirtschaft, 1984, 4, S.5ff.
[31] Rechnung 1984: BBl, 1985, I, S. 1534 ff. ; Presse vom 2.3.85. Rechnung 1983: BBl, 1984, II, S. 291; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 224; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1097. Budget: NZZ, 1.3.84; 25.5.84; 20.9.84; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 608; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1770. Vgl. auch wf, Dok., 49, 3.12.84.
[32] Überblicke: Vr, 10.1.84; Bund, 13.10.84 (H. Bremi); TAM, 44, 3.11.84.
[33] Presse vom 8.10.84.
[34] BBl, 1984, II, S. 1290; LdU, Eidg. Volksinitiative zur Förderung des öffentlichen Verkehrs, Bern 1984; vgl. auch TA, 10.2.84; Presse vom 5.9.84. Haltung der SPS: TW, 8.10.84; Presse vom 19.11.84. Neuordnung der Treibstoffzölle: vgl. SPJ, 1983, S. 110 sowie oben, Generelle Verkehrspolitik. Revision des Eisenbahngesetzes: Gesch.ber., 1984, S. 313. Übergangslösungen: BBl, 1984, I, S. 1344; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 598; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 571; NZZ, 23.8.84.