Année politique Suisse 1985 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Parteiensystem
Die Halbzeit in der eidgenössischen Legislaturperiode 1983-1987 gab politischen Beobachtern Anlass, eine Zwischenbilanz über die Entwicklung des schweizerischen Parteiensystems zu ziehen. Was die Kräfteverhältnisse betrifft, so haben wir bereits beim Überblick über die kantonalen Wahlen festgestellt, dass vor allem ein Vormarsch zweier oppositioneller Richtungen, der Grünen und der nationalistischen Rechten, zu verzeichnen war, während die Bundesratsparteien stagnierten oder — wie namentlich die Sozialdemokraten — Einbussen erlitten. Besonders alarmierend wirkte eine deutliche Verstärkung dieses Trends bei den westschweizerischen Wahlen im Herbst. Hat der schleichende Kreditverlust, dem die traditionellen Parteien infolge des sozialen Wandels seit Jahren unterliegen, einen Kristallisationspunkt erreicht, wo das Auftreten ungewohnter Phänomene (Waldsterben, Drittweltflüchtlinge) erdrutschartige Veränderungen auszulösen vermag, wenn unverbrauchte politische Kräfte bereitstehen? Der Politologe Leonhard Neidhart sah keinen Anlass, von einem Glaubwürdigkeitsschwund der Parteien zu reden. Er führte die Verschiebungen in der Wählergunst vielmehr auf eine allgemeine Verknappung der «Ressourcen» zurück; damit wies er einerseits aufdas Unbehagen in der Bevölkerung gegenüber der Umweltbelastung, der Einwanderung aus fremden Kulturen oder der Unsicherheit im Wohnsektor, anderseits auf systembedingte Grenzen der Handlungsspielräume, die den alten Parteien die Konkurrenz mit ungebundenen Protestbewegungen erschweren. Unter den erfolgreichen Oppositionsgruppen gab Neidharts Fachkollege Wolf Linder den Grünen grössere Zukunftschancen als den Nationalisten, da sie sich nicht so einseitig auf ein Einzelproblem konzentrierten [1].
Die Regierungsparteien, die sich durch die Erfolge oppositioneller Kräfte gemeinsam herausgefordert sahen, setzten ihre Bemühungen um eine Verständigung über dringliche Hauptprobleme fort. Ihre Spitzen, die sich im Vorjahr auf ein «Zehnpunkteprogramm» zum Umweltschutz geeinigt hatten, bekundeten nun die Bereitschaft, die Durchsetzung der von Volk und Ständen genehmigten Schwerverkehrsabgabe sowie die Einführung der US-Abgasnorm 1983 zu unterstützen. Gegen Jahresende formulierten sie auch ein Programm für die Förderung des öffentlichen Verkehrs. Zugleich befassten sie sich mit der Asylfrage und gaben der Vorsteherin des EJPD namentlich in ihren Personalwünschen Sukkurs [2]. Die CVP legte weiterhin Wert auf ihre Scharnierposition im Quartett der Bundesratsparteien. Aufgrund einer Umfrage stellte sie fest, dass sie in den Augen der Wähler das ausgeglichenste Image aufweise, sofern man als massgebende Zielsetzungen eine starke Wirtschaft, persönliche Freiheit, einen gesunden Sozialstaat und einen wirksamen Umweltschutz annehme; demgegenüber geniesse die FDP in den beiden ersten Anliegen überdurchschnittliche Anerkennung, die SP dagegen in den beiden letzten. Noch mehr als bisher traten die Parteiführer mit medienwirksamen Erklärungen ins Rampenlicht, und es wurde gerade für die CVP als Nachteil gewertet, dass ihrem Präsidenten Cotti diese Rolle weniger liege als seinen Kollegen Hubacher (SP), Hunziker (FDP) und Ogi (SVP) [3].
 
[1] Kräfteverhältnisse: SZ, 28.12.85; Vat., 30.12.85; vgl. dazu oben, Teil I, 1 e (Kantonale Wahlen). Ursachen der Verschiebungen: L. Neidhart in NZZ, 23.11.85; W. Linder in SGT, 7.11.85.
[2] Periodische Gespräche: NZZ, 20.2.85; 22.5.85; 20.11.85. Vgl. dazu auch SZ, 28.12.85; R. H. Strahm in Rote Revue, 64/1985, Nr. 12, S. 1; P. Hablützel, « Regierungsparteiengespräche im schweizerischen Konkordanzsystem», in SJPW, 26/1986 ; ferner oben, Teil I, 6 b (Generelle Verkehrspolitik), 6 d (Luftverschmutzung) und 7 d (Réfugiés) sowie SPJ, 1984, S. 122 u. 213. Die beschränkte Wirksamkeit solcher Absprachen auf Landesparteiebene zeigte allerdings die Überweisung einer SVP-Motion im NR, welche verlangt, dass im Ausland erhobene Retorsionsabgaben den schweizerischen Transportunternehmern durch den Bund zurückerstattet werden, was den Ertrag der schweizerischen Schwerverkehrsabgabe beeinträchtigen würde.
[3] Scharnierposition: H.-P. Fagagnini in NZZ, 18.7.85. Über die Anerkennung der CVP bei ihren Regierungspartnern vgl. Vat., 10.8.85. Parteipräsidenten: TA, 9.5.85.