Année politique Suisse 1985 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Christlichdemokratische Volkspartei
Nachdem im Vorjahr die Sozialdemokraten ihren Standort im politischen System von Grund auf diskutiert hatten, war es diesmal die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), die eine grundsätzliche Analyse der Parteisituation vornahm. Die mit der Überprüfung der Lage und der Ausarbeitung von Empfehlungen beauftragte Studiengruppe unter der Leitung des Basler Juristen und Politologen G. Schmid legte einen ungewohnt offenen Bericht vor. Dieser stellt fest, dass die Partei sich zwar in den traditionellen Hochburgen behauptet, in den Agglomerationen und in der Westschweiz aber zunehmend an Wählern verliert. Infolge ihres unterschiedlichen Erscheinungsbildes je nach Mehrheits- oder Minderheitsposition besitzt sie kein eindeutiges Profil. Dazu kommt das Abweichen der Bundeshausfraktion von den relativ detaillierten Forderungen des Aktionsprogramms, worunter die Glaubwürdigkeit leidet. Schwierigkeiten bietet auch die christliche Ausrichtung, das «C»: Zwar findet die Partei in der katholischen Bevölkerung ihren hauptsächlichen Rückhalt, im Zuge der progressiven Bestrebungen innerhalb der Kirche erscheint sie aber gerade jungen Leuten oft nicht christlich genug. Die Empfehlungen der Studiengruppe gehen nach verschiedenen Richtungen: vermehrte Betonung des Grundsätzlichen in der Politik aufgrund offener Auseinandersetzungen, Ausbau der Positionen in der «Diaspora» durch Aufnahme ihrer besonderen Anliegen, Werbung in der Jugend, bei den Frauen und bei den Protestanten, Verstärkung der Organisation und Verbesserung der Medienpräsenz [4]. Der Bericht fand im Spätsommer an einem Parteitag in Genf gute Aufnahme und führte zu organisatorischen Massnahmen : so soll eine ständige Programmkommission die Grundhaltung und eine profilierte Politik schärfer her ausarbeiten, ein besonderes Gremium die Beziehungen zu den Kirchen pflegen und das Gespräch zwischen den Sozialpartnern innerhalb der Partei institutionalisiert werden. Die Partei hielt an ihrem Platz in der Mitte fest. Die FDP wurde wegen ihrer vor allem hohe Einkommen entlastenden Steuerinitiative aufs Korn genommen, und die Anregung, eine Fusion mit der SVP anzustreben, erntete wie schon in früheren Jahren kaum Echo [5].
Eine Profilierung, die allerdings von Aussenstehenden als konservativ gewertet wurde, nahm die CVP mit der Unterstützung der Initiative «Recht auf Leben» vor. Sie entsprach damit dem Beschluss der Arbeitsgemeinschaft ihrer Frauen, während die Junge CVP sich für Stimmfreigabe entschied [6]. Mit ihrer Frauenorganisation setzte sich die Partei jedoch auch für das neue Eherecht ein [7]. Eine Abgrenzung vollzog die Parteispitze gegenüber rechtsextremen Auffassungen, als sich innerhalb der Unterwalliser Kantonalpartei ein Mouvement conservateur et libéral bildete, in dessen Kreisen nicht nur für den traditionalistischen Erzbischof Lefebvre, sondern auch für den Führer des französischen Front national, Le Pen, Sympathien geäussert wurden. Die Bewegung versteht sich als konservatives Gegengewicht gegen den christlichsozialen Parteiflügel, hat aber in der Bevölkerung bisher nur geringe Verbreitung gefunden [8].
 
[4] Sozialdemokraten: SPJ, 1984, S. 213 ff. Studiengruppe: Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz, Bericht der «Projektgruppe zur Lage der Partei», 1985 ; vgl. auch NZZ, 29.6.85 ; 22.8.85 ; Vat., 23.7.85; 26.7.85 ; 2.8.85; 5.8.85; 7.8.85; 9.8.85; 23.8.85 sowie SPJ, 1984, S. 216.
[5] Presse vom 31.8. und 2.9.85; NZZ, 3.9.85; JdG, 4.9.85. Zur FDP-Steuerinitiative vgl. oben, Teil I, 5 (Direkte Bundessteuer), zu einer Fusion siehe U. Altermatt in Vat., 14.8.85.
[6] Parteiparole: Presse vom 13.5.85. Frauen: NZZ, 25.3.85; TA, 25.3.85. Junge CVP: NZZ, 10.5.85. Konservative Wertung: SZ, 13.5.85; TW, 24.8.85; NZZ, 3.9.85. Vgl. oben, Teil I, 1 b (Grundrechte).
[7] Parteiparole: Presse vom 2.9.85. Frauen: Vat., 26.8.85. Vgl. oben, Teil I, 7d (Politique familiale).
[8] Abgrenzung: Generalsekretär H.-P. Fagagnini in Pressedienst der CVP der Schweiz, 16, 20.2.85 ; Parteipräsident F. Cotti in Ww, 17, 25.4.85. Mouvement conservateur et libéral: Ww, 1, 3.1.85; NF, 12.1.85; L'Hebdo, 3, 17.1.85; Vat., 30.1.85; BaZ, 1.2.85; NZZ, 18.2.85; Bund, 14.3.85. Über Lefebvre vgl. SPJ, 1977, S. 151; 1979, S. 163.