Année politique Suisse 1985 : Allgemeine Chronik
Überblick
Die internationale Lage wurde 1985 von einer weiteren Entkrampfung der Beziehungen zwischen den Weltmächten — diese gipfelte im Treffen der beiden Staatsführer Reagan und Gorbatschow in Genf — und andauernden Krisenzuständen auf regionalen Schauplätzen geprägt. Eine Auswirkung solcher sekundärer Spannungsherde bildete die weitere Steigerung des Zudrangs von Flüchtlingen aus der Dritten Welt. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das politische Leben der Schweiz waren von einer Verstärkung des konjunkturellen Aufschwungs gekennzeichnet, die mit der Abflachung des weltwirtschaftlichen Wachstums kontrastierte. Sie schlug auch auf den Arbeitsmarkt durch, wo sich die Beschäftigungslosigkeit wieder verminderte, und trug dazu bei, dass der Bundesrat erstmals seit anderthalb Jahrzehnten ein ausgeglichenes Budget vorlegen konnte.
In den innenpolitischen Verhältnissen traten kaum neue Entwicklungen auf, aber eine Verschärfung einzelner Trends. Bei kantonalen Wahlen bröckelten die Positionen der grossen Parteien, namentlich der SP, weiter ab, und politische Aussenseiter wie vor allem die nationalistische Rechte und etwas schwächer auch die Grünen erweiterten ihre Anhängerschaft. Entsprechend fühlten sich die Behörden in der Asylpolitik und im Umweltschutz erhöhtem Druck ausgesetzt. Es meldeten sich freilich auch Gegenkräfte: im einen Fall zugunsten der Flüchtlinge, im andern zur Wahrung der Ungebundenheit des privaten Motorfahrzeugverkehrs.
Der Souverän zeigte sich behördlichen Vorlagen gegenüber recht wohlwollend gesinnt. So akzeptierte er verschiedene Verfassungsänderungen im Rahmen der Verlagerung von Aufgaben vom Bund auf die Kantone sowie im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine Entlastung der Bundesfinanzen. Die Kantonalisierung der Ausbildungsbeiträge wurde jedoch knapp verworfen. In der Frage der Vereinheitlichung des Schuljahrbeginns auferlegten die sonst eher föderalistisch orientierten West- und Innerschweizer der übrigen deutschen Schweiz die von ihnen praktizierte und vom Bundesparlament bevorzugte Spätsommervariante. Nach einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen konservativen und fortschrittlicheren Kräften setzte sich das neue Ehe- und Erbrecht durch. Dagegen unterlag die Innovationsrisikogarantie, die von den Unternehmerverbänden und von den bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der CVP bekämpft wurde. Die zur Abstimmung gelangenden Volksbegehren, die je ein konservatives («Recht auf Leben»), ein traditionelllinkes (Ferienverlängerung) und ein ökologisches Anliegen (Verbot der Vivisektion) vorbrachten, wurden alle mit einer Mehrheit von rund zwei Dritteln abgelehnt, nachdem immerhin die beiden letzteren gewisse Veränderungen bewirkt hatten.
Die Gesetzgebungstätigkeit der eidgenössischen Räte zeitigte vor allem im wirtschaftlichen Bereich Ergebnisse von grösserer Tragweite. So wurde die langwierige Revision des Kartellrechts abgeschlossen und kam ein Ausführungsgesetz zur 1982 durchgedrungenen Preisüberwachungsinitiative zustande, das in den Augen der Initianten den Verfassungsauftrag allerdings nicht erfüllt. Erwähnt sei auch die Neuregelung für die Bildung steuerbegünstigter Arbeitsbeschaffungsreserven. Auf landwirtschaftlichem Gebiet fand das Pachtrecht seine neue gesetzliche Form, und im Grenzbereich zwischen Verkehrspolitik und Finanzordnung erhielten die 1983 revidierten Verfassungsbestimmungen über die Treibstoffzölle den erforderlichen Ausführungserlass. Schliesslich wurde der Kulturinitiative ein weit bescheidenerer Gegenentwurf gegenübergestellt.
Einen formell bedeutsamen Entscheid fällte der Nationalrat, als er — zwei Jahre nach dem Ständerat — der Rahmenbewilligung für ein Kernkraftwerk Kaiseraugst seine Zustimmung gab. Angesichts der Gegnerschaft einer über die politische Linke hinausreichenden und namentlich in der Region Basel verankerten Opposition erschien der Gang der Dinge damit jedoch noch nicht endgültig vorgezeichnet.
Die Spitzen der Bundesratsparteien zeigten eine gewisse Bereitschaft, zur Lösung besonders dringlicher Aufgaben wie Umweltschutz und Förderung des öffentlichen Verkehrs zusammenzuarbeiten. Dies wirkte sich in entsprechenden Forderungen des Parlaments wie auch im Erlass von Verordnungen und in der Verabschiedung von neuen Konzepten durch den Bundesrat aus. Die politische Polarisierung dauerte jedoch an und hemmte die Verwirklichung anderer gesetzgeberischer Vorhaben. Dies gilt für eine Neufassung des Bankengesetzes wie für die Reform im Kleinkreditwesen, für die 10. AHV-Revision wie für die Sanierung der Krankenversicherung und ebenso für eine Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Auch die Aufwertung der Volksinitiative durch ein demokratischeres Abstimmungsverfahren bei Vorliegen eines Gegenentwurfs blieb stecken. Vor allem aber ist eine tragfähige Neuordnung der Bundesfinanzen nicht abzusehen ; von bürgerlicher Seite wird die Erschliessung neuer Einnahmenquellen verweigert, die FDP strebt ausserdem Steuerentlastungen an.
Angesichts der geringen Konsensbereitschaft der politischen Gruppen blieb der Handlungsspielraum der Exekutivbehörden eng. So liess sich der Bundesrat mehr vom Druck der gesellschaftlich wirksamen Kräfte als von eigenen Initiativen leiten; dies gilt neben den Massnahmen fir Umweltschutz und öffentlichen Verkehr auch für die Revision des Asylrechts und die Auflockerung der Medienordnung. Unternehmungslust äusserte sich besonders in der Aussenpolitik, deren Aktivitäten aber in der Öffentlichkeit nicht immer Verständnis fanden. Wo kantonale Exekutiven sich einer altgewohnten Bewegungsfreiheit bedienten, kam es nicht zuletzt unter dem Einfluss eines geschärften Sinnes für Legalität leicht zu Konflikten, so namentlich im Kanton Bern.
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P.G.