Année politique Suisse 1985 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Zur Frage einer Totalrevision der Bundesverfassung
legte der Bundesrat im Spätherbst den Bericht vor, den er 1983 angekündigt hatte, um dem Parlament den Entscheid über die Fortsetzung der Arbeiten zu überlassen. Dieser Bericht enthält eine Ubersicht über den bisherigen Gang der Revisionsbestrebungen, Hinweise auf Verfassungsrevisionen im Ausland und in den Kantonen, den Entwurf der Expertenkommission Furgler sowie eine «Modell-Studie» des EJPD, die auf dem Expertenentwurf aufbaut, ihn aber aufgrund des Vernehmlassungsverfahrens wesentlich modifiziert. So werden Eigentum und Wirtschaftsfreiheit ohne Vorbehalte gewährleistet und die Bundeskompetenzen abschliessend aufgezählt. Den Grundrechten stehen Grundpflichten (Schul-, Stimm-, Dienst- bzw. Wehr- und Steuerpflicht) gegenüber. Ein Katalog von Staatszielen wird von den Kompetenzbestimmungen getrennt. Bei den Volksrechten wird neben der (unformulierten) Einheitsinitiative, die von der Bundesversammlung auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe auszugestalten ist, auch die ausgearbeitete Verfassungsinitiative aufgeführt. Die Organisation der Bundesbehörden bleibt praktisch unverändert, und die gerichtliche Anfechtbarkeit von Bundesgesetzen fällt dahin. Der Bundesrat bejaht aber nur den Grundsatz der Totalrevision; zum neuen Modell enthält er sich eines Urteils. Was das weitere Verfahren betrifft, so setzt er voraus, dass es nach einem zustimmenden Grundsatzentscheid der Bundesversammlung seine Sache wäre, einen Entwurf für die parlamentarische Behandlung vorzulegen
[11].
Die
Aufnahme von Bericht und Modellentwurf war gedämpft. Unter den ersten Erklärungen der Regierungsparteien lautete diejenige der CVP am positivsten. Die FDP begrüsste den Antrag, empfahl aber ein behutsames Vorgehen, das és dem Parlament erlauben würde, auch Wegmarken für die konkrete Ausgestaltung des Verfassungsentwurfs zu setzen. Die SP bestritt der Revision ihre Aktualität, und die SVP erklärte sie für überflüssig. Die Präsidenten der vier Fraktionen sprachen sich alle für eine Fortsetzung des Unternehmens aus, allerdings mit unterschiedlichen Zielvorstellungen. Sozialdemokratische Sprecher befürworteten eine weitergehende Reform, als sie die Modellstudie anbietet. Entschiedener äusserten sich Vertreter des Landesrings für eine Totalrevision, wobei sie den im Vorjahr veröffentlichten Entwurfder Juristen A. Kölz und J. P. Müller in den Vordergrund rückten. Die Kommentare der Presse waren dagegen überwiegend skeptisch gestimmt
[12].
[11] BBl, 1985, III, S. 1 ff. Vgl. dazu SPJ, 1976, S. 12; 1977, S. 12; 1983, S. 12.
[12] Regierungsparteien: NZZ, 27.11.85. Fraktionspräsidenten: Vat., 7.12.85. Sozialdemokraten: TA, 7.12.85 (Hubacher); Vat., 7.12.85 (D. Robbiani). Landesring: TA, 7.12.85 (F. Jaeger); Vat., 7.12.85 (S. Widmer); vgl. dazu SPJ, 1984, S. 13. Skeptische Kommentare: Presse vom 27.11.85; JdG, 28.11.85; Bund, 29.11.85. Revisionsfreundliche Kommentare : BaZ, 27.11.85; SGT, 27.11.85 ; TA, 27.11.85; Vat., 30.11.85. Vgl. auch Menschenrechte und katholische Soziallehre. Sozialethische Überlegungen zur Totalrevision der Bundesverfassung sowie zum Beitritt der Schweiz zur Europäischen Sozialcharta und zur UNO, hg. v. d. Schweiz. Nationalkommission Justitia et Pax, Freiburg 1985.
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