Année politique Suisse 1985 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Strafrecht
Als zweite Etappe bei der Reform des Strafrechts (und des Militärstrafrechts) legte der Bundesrat die Botschaft zur Revision der Bestimmungen über «Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen Sittlichkeit und gegen die Familie» vor. Um eine differenziertere Beurteilung zu ermöglichen, teilte er die Vorlage in zwei Gesetzesentwürfe auf. Der erste umfasst den Bereich des Schutzes von Leib, Leben und Familie, der zweite betrifft das politisch wesentlich umstrittenere Sexualstrafrecht (strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit) [16].
Eine der wichtigsten Neuerungen im ersten Entwurf ist die Verbesserung des Schutzes für Kinder und fürsorgebedürftige Erwachsene. Aus der Erkenntnis, dass die Darstellung und Verherrlichung von Gewalt und Brutalität einen mindestens ebenso schädlichen Einfluss haben kann wie die Pornographie, sollen auf diesem Gebiet neue Bestimmungen erlassen werden. Herstellung, Einfuhr und Verbreitung von Darstellungen grausamer Gewalttätigkeiten gegen Mensch und Tier will der Bundesrat verbieten, sofern sie keinen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert haben. Ausgenommen von diesem Verbot sind also einerseits dokumentarische oder künstlerische Werke, die Grausamkeiten zeigen, um auf deren Verwerflichkeit hinzuweisen und andererseits Darstellungen, die für Lehre und Forschung von Bedeutung sind.
Im zweiten Gesetzesentwurf, der sich mit den strafbaren Handlungen im Sexualbereich befasst, rückte der Bundesrat fast durchwegs von jenen Vorschlägen der Expertenkommission Schultz aus dem Jahre 1981 ab, die in der Öffentlichkeit heftig kritisiert wurden. Die anvisierte Entkriminalisierung war in der Vernehmlassung vielerorts als zu weitgehend abgelehnt worden. Primär aus Rücksicht auf das sittliche Empfinden der Bevölkerungsmehrheit soll das Schutzalter bei 16 Jahren belassen werden. Keine Berücksichtigung fand ferner der Expertenvorschlag, den strafbaren Tatbestand der Vergewaltigung auf eheliche Verhältnisse auszudehnen; hier waren vor allem Bedenken bezüglich der Beweisermittlung und der sich dabei ergebenden zusätzlichen Gefährdung der betreffenden Ehen ausschlaggebend. Die gemeinsame Begehung einer Tat (z.B. Notzucht durch eine Gruppe) soll sich in Zukunft strafverschärfend auswirken. Bei der Pornographie — bisher unzüchtige Veröffentlichungen genannt — unterscheidet der Entwurf zwischen weicher und harter Pornographie. Die Einfuhr und Verbreitung der harten Pornographie, d.h. der Darstellung von geschlechtlichen Handlungen mit Kindern oder Tieren sowie sexuellen Akten im Zusammenhang mit Exkrementen und Grausamkeiten bleibt generell verboten. Alle übrigen Darstellungen gelten als weiche Pornographie und sind, insofern sie nicht Kindern unter 16 Jahren zugänglich gemacht werden, straffrei [17].
Gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Statistik ist es nun auch in der Schweiz angebracht, von einer Überfüllung der Strafvollzugsanstalten zu sprechen. Die Studie macht dafür weniger einen allgemeinen Anstieg der Kriminalität verantwortlich, als vielmehr demographische und kulturelle Veränderungen in der Bevölkerung. Zum einen ist die relative Zunahme derjenigen Altersgruppe zu erwähnen, welche seit jeher die höchste Kriminalitätsrate aufweist (18- bis 29jährige). Die Steigerung der Zahl der Gefängnisinsassen erklärt sich im weitem durch die auch in diesem Bereich aktivere Rolle der Frau und durch den Anstieg der Drogendelikte. Dass in den überfüllten Gefängnissen die Qualität des Strafvollzugs und insbesondere dessen erzieherische Wirkung leidet, wird von allen Beteiligten anerkannt [18]. Ein Mittel zur Bekämpfung dieses Zustandes könnte die allgemeine Einführung von Alternativstrafen sein, wie sie beispielsweise gemeinnützige Arbeitseinsätze darstellen. Heute wird in der Schweiz, im Gegensatz zu einigen andern europäischen Staaten, diese Art der Strafverbüssung lediglich Jugendlichen gewährt. Beide Räte überwiesen eine entsprechende Motion Longet (sp, GE) diskussionslos. Der Bundesrat seinerseits ermächtigte die Kantone in einer Verordnung zum Strafgesetzbuch, während einer bis 1990 befristeten Versuchsphase die Lirnite für die Möglichkeit der Verbüssung von Gefängnisstrafen in Halbgefangenschaft von drei aufs sechs Monate zu erhöhen. Zudem kann das EJPD die Kantone ausnahmsweise ermächtigen, andere, vom Gesetz abweichende Vollzugsformen einzuführen [19].
 
[16] BBl, 1985, II, S. 1009 ff. Als nächste Etappe wird die Revision der Bestimmungen über die Vermögensdelikte an die Hand genommen. Im August ermächtigte der Bundesrat das EJPD, den von einer Expertenkommission ausgearbeiteten Vorentwurf in die Vernehmlassung zu geben (Documenta, 1985, Nr. 3, S. 9; BBl, 1985, II, S. 1203). Die diesjährige Jahresversammlung des schweiz. Juristenvereins vom 718. Sept. war dem Thema der Wirtschaftskriminalität gewidmet (siehe Zeitschrift für schweiz. Recht, NF, 104/1985, II, S. 297 ff.).
[17] Zum Expertenentwurf siehe SPJ, 1981, S. 149 ff. In der Dezembersession lehnte der Nationalrat eine Motion von Barbara Gurtner (poch, BE) auf Ausdehnung der Notzuchtbestimmungen auf eheliche Verhältnisse ab (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2239). Mit der Strafverschärfung für gemeinsam begangene Delikte entsprach der Bundesrat einer 1985 auch vom Ständerat überwiesenen Motion der Genfer Nationalrätin Christinat (sp) (SPJ, 1984, S. 18 f.; Amtl. Bull. StR. 1985, S. 305 f.).
[18] BA für Statistik, Kriminalstatistik — Ergebnisse, Kurzberichte, Mitteilungen, Bern 1985; Presse vom 18.10.85. Bei den Frauen verdoppelten sich in den letzten zehn Jahren die Verurteilungen zu unbedingten Gefängnisstrafen.
[19] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1239; Amtl. Bull. StR, 1985, S. 654 f. In dieser Angelegenheit reichte auch der Kanton Genf eine Standesinitiative ein (Verh. B. vers., 1985, V, S. 13). AS, 1985, S. 1941 ff. (Verordnung 3 zum StGB).