Année politique Suisse 1985 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Bei Halbzeit der Legislaturperiode hatte die Regierung zwei Drittel (20) der in den Richtlinien der Regierungspolitik als vordringlich bezeichneten Geschäfte zuhanden des Parlaments verabschiedet, dazu gesellten sich noch zwei der 22 in die 2. Prioritätsstufe eingeordneten Vorlagen
[1]. Namentlich von bürgerlicher Seite war in letzter Zeit immer wieder vor einer überbordenden Staatstätigkeit und einer allzugrossen Gesetzesproduktion gewarnt worden. Da als Pauschalbeleg für derartige Thesen oft das Wachstum der Seiten- und Artikelzahlen in den amtlichen Gesetzessammlungen vorgebracht wurde, stiess eine diesbezügliche quantitative Untersuchung eines Lausanner Politologenteams auf lebhaftes Interesse. Die Studie kommt zum Schluss, dass von 1947 bis 1982 auf Bundesebene der Bestand an Gesetzen und Verordnungen langsamer angewachsen ist als wirtschaftliche und demographische Vergleichsgrössen. Dabei wird für die Jahre nach 1975 sogar eine Tempoverlangsamung konstatiert. Nach Ansicht der Autoren wird von den Staatskritikern in der Regel zu wenig berücksichtigt, dass es sich bei der legislatorischen Tätigkeit meist um die Revision bereits bestehenden Rechts handelt und dass zudem laufend veraltete Bestimmungen aufgehoben werden. Die Ursache für das verbreitete Malaise in der Bevölkerung sei deshalb nicht in der Anzahl der Bestimmungen zu sehen. Entscheidend sei vielmehr, dass sich die Gesetzesnormen in einer modernen Industriegesellschaft mit ihren immer komplexer werdenden Strukturen auf einen grösseren Lebensbereich auswirken und zudem in vielfältiger Weise überschneiden
[2].
Das an sich nicht neue Problem der
Entlastung der Regierung von untergeordneten Tätigkeiten war 1984 durch den gesundheitsbedingten Rücktritt von Bundesrat Friedrich aktualisiert worden. Die Landesregierung setzte sich anlässlich einer Klausurtagung mit möglichen Lösungen auseinander. Diverse parlamentarische Vorstösse gaben ihr dann in der Dezembersession Gelegenheit, ihre Vorstellungen darzulegen. Die unter anderem von einer Motion Pini (fdp, TI) geforderte Bestellung von
Staatssekretären als Stellvertreter der Departementschefs lehnt der Bundesrat ab, da er davon eine unfruchtbare Aufteilung der politischen Führungsverantwortung befürchtet. Die Begründung seiner Politik vor Parlament und Öffentlichkeit betrachtet er als eine seiner wichtigsten Aufgaben. Aus den gleichen Gründen spricht er sich auch gegen das Auftreten von Chefbeamten an seiner Statt in Parlamentsdebatten aus. Als wünschenswert taxiert er hingegen deren Einsatz in den vorberatenden parlamentarischen Kommissionen. Erforderlich ist dazu allerdings das Einverständnis dieser Ausschüsse. Das Schwergewicht bei Massnahmen zu ihrer Entlastung legt die Landesregierung jedoch auf den administrativ-organisatorischen Bereich. Noch mehr als bisher sollen die Bundeskanzlei und die Generalsekretariate der Departemente an der Vorbereitung der Regierungsgeschäfte beteiligt werden
[3].
Die im sogenannten Garantiegesetz festgehaltene Bestimmung, dass
nicht zwei Bundesräte ihren Bürgerort im selben Kanton haben dürfen, hatte ursprünglich den Zweck, regionale Übervertretungen zu verhindern. Da heute infolge der grossen geographischen Mobilität der Heimatort kein gültiges Kriterium für die Herkunft einer Person darstellt, wird diese Vorschrift als veraltet angesehen. Eine parlamentarische Initiative Bircher (sp, AG) und eine Motion der SVP-Fraktion hatten deshalb eine Gesetzesrevision verlangt. Die 1984 mit der Vorberatung dieser Begehren beauftragte Kommission des Nationalrats sprach sich nun für die Beibehaltung des Grundsatzes aus, wonach jeder Kanton höchstens einen Vertreter in die Landesregierung entsenden darf. Anstatt des Heimatortes soll jedoch primär der Ort der bisherigen politischen Tätigkeit massgebend für die Kantonszugehörigkeit sein
[4].
Eine handfeste
Vertrauenskrise erschütterte während des Berichtsjahres die staatlichen Institutionen des
Kantons Bern. Angefangen hatte die Affäre bereits im Spätsommer 1984 mit einem Bericht des kantonalen Beamten Rudolf Hafner zuhanden der Mitglieder des Grossen Rates. Darin rügte er Verfassungs- und Gesetzesverletzungen, die er in seiner Funktion als Finanzrevisor festgestellt hatte, und verlangte die Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen den Regierungsrat. Da er sich in seiner Tätigkeit ausschliesslich mit der Polizeidirektion und der Direktion für Verkehr, Energie und Wasserwirtschaft zu befassen hatte, gerieten neben der rechnungsführenden Finanzdirektion diese Departemente ins Schussfeld der Kritik. Betroffen waren namentlich die Regierungsräte W. Martignoni (svp) und H. Krähenbühl (fdp) sowie einige Chefbeamte ; der Vorsteher der Direktion für Verkehr, Energie und Wasserwirtschaft, R. Bärtschi (sp), hatte hingegen sein Amt zum Zeitpunkt der inkriminierten Handlungen noch nicht angetreten gehabt. In einer eingehenden Analyse stellte die vom Grossen Rat eingesetzte Besondere Untersuchungskommission (BUK) fest, dass die Beanstandungen im wesentlichen berechtigt waren. Insbesondere nahm die BUK Anstoss an der Führung eines Kontos für Unvorhergesehenes als Sammelkonto für Buchungen, die beispielsweise nicht budgetiert worden waren, oder die in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden sollten (finanzielle Unterstützung von Abstimmungskomitees, etc.). Als nicht mit dem Lotteriegesetz vereinbar wurden im weiteren einige Auszahlungen aus SEVA-, Zahlenlotto- und Sport-Toto-Geldern erklärt, da diese nicht den vorgeschriebenen gemeinnützigen oder wohltätigen Zwecken zugute kamen. In bezug auf die Rechtmässigkeit der jurapolitisch brisanten Überweisungen an die für den Verbleib des Südjuras beim Kanton Bern kämpfende «Force démocratique» gelangte die BUK zu keiner einheitlichen Beurteilung. Insgesamt konstatierte die BUK eine Reihe von zum Teil schwerwiegenden Amtspflichtverletzungen, sie sah jedoch mit Stichentscheid ihrer Präsidentin vom Antrag auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung ab. Dazu beigetragen hatte namentlich auch der Eindruck, dass für das kritisierte Verhalten der Regierungsräte keinerlei unlautere persönliche Motive zugrunde lagen. Die These von der absoluten Uneigennützigkeit war allerdings nicht mehr unbestritten, da R. Hafner kurz vor der Debatte im Parlament der Untersuchungskommission Angaben über gewisse Grosszügigkeiten bei der Regelung der Spesenentschädigungen für Regierungsräte zukommen liess. Reagierte bisher die breite bernische Öffentlichkeit noch einigermassen gelassen auf die politisch begründeten Eigenmächtigkeiten ihrer Magistraten, schien nun die Geduld erschöpft zu sein. Noch vor dem Grossratsentscheid über die Anträge der BUK erklärten arn 11. November Martignoni und Krähenbühl ihren Rücktritt auf Ende der Legislaturperiode (Frühjahr 1986). Das Parlament folgte am 14. November seiner Kommission in der Frage der Disziplinaruntersuchung mit 97 zu 87 Stimmen und lehnte es auch ab, die strafrechtliche Immunität der Regierungsmitglieder aufzuheben. Die Regierung selbst führte zu ihrer Entschuldigung insbesonders an, dass es sich bei den beanstandeten Beschlüssen zum Téil um langjährige bewährte Praxis gehandelt habe, und dass sie sich während der Jahre des Kampfs um die Integrität des Kantonsgebiets zur Wahrnehmung eines vergrösserten politischen Handlungsspielraums verpflichtet gefühlt habe
[5].
Von weniger grundlegender Art waren die Anfechtungen, denen sich Mitglieder der
Regierungen der Kantone Solothurn und Graubünden ausgesetzt sahen. In Solothurn bestätigte das Obergericht die Verurteilung von vier der fünf Regierungsräte wegen Behinderung der Untersuchungsbehörden bei einem Verfahren gegen den ehemaligen Rektor einer Schule; es sprach sie allerdings vom Tatbestand der Begünstigung frei. In Graubünden sah sich Regierungsrat Lardi (cvp) zum Rücktritt auf Ende der Legislaturperiode (1986) veranlasst. Gegen ihn läuft eine Strafuntersuchung wegen widerrechtlicher Grundstückverkäufe an Ausländer, die er vor seinem Amtsantritt begangen haben soll
[6].
[1] Gesch.ber., 1985, S. 1 ff.; siehe dazu auch SPJ, 1984, S. 22 f.
[2] W. Linder / S. Schwager / F. Comandini, Inflation législative?, Lausanne 1985. Zum Zusammenhang zwischen zunehmender Komplexität der Umwelt und engerer sozialer Verflechtung einerseits, höherer Regeldichte andererseits vgl. U. Gadient, «Mehr Gesetze?», in NZZ, 16.2.85. Vgl. auch SGZ, 5, 31.1.85.
[3] Schriftliche Antwort des BR auf Motionen von Pini (fdp, TI) und der FDP-Fraktion sowie der Interpellation Keller (cvp, AG) : BZ, 24.12.85. Vgl. auch BR Furgler zu der vom Ständerat überwiesenen Motion Masoni (fdp, TI) (Amtl. Bull. StR, 1985, S. 627 ff.). Siehe dazu ferner H. Zwicky, «Kollegialregierung — Idealbild und Wirklichkeit», in Schweizer Monatshefte, 65/1985, S. 213 ff.; P. Saladin, «Probleme des Kollegialprinzips», in Zeitschrift für schweiz. Recht, NF, 104/1985, I, S. 271 ff. und SPJ, 1984, S. 24. Ein Novum ergab sich bei der parlamentarischen Beratung der Neuregelung des Abstimmungsverfahrens bei Initiative und Gegenvorschlag sowie der Revision des Publikationsgesetzes. Da die Vorlagen von der Bundeskanzlei ausgearbeitet worden waren, liess sich der Bundesrat durch Bundeskanzler Buser vertreten (Amtl. Bull. StR, 1985, S. 211 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1223, 1225 und 2120 f.). Zum Publikationsgesetz siehe unten, Teil I, 8 c (Information).
[4] BBl, 1985, II, S. 531 ff. Vgl. SPJ, 1984, S. 25. Zum Bundespräsidenten für das Jahr 1986 wählte die Bundesversammlung Alphons Egli, zum Vizepräsidenten Pierre Aubert (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2301).
[5] Bericht der Besonderen Untersuchungskommission (BUK) vom 26. August 1985 zuhanden des Grossen Rates des Kantons Bern betreffend die Beanstandungen des Rudolf Hafner vom 22. August 1984, Bern 1985. BZ, 25.8.84; 27.8.84; 31.8.85; 2.9.85; 6.9.85; 11.9.85; 5.10.85; 2.11.85; Bund 4.11.-8.11.85; 12.11.85; 14.11.85; 15.11.85. Siehe dazu als gute Zusammenfassung auch E. Buschor, « Probleme der staatlichen Finanzaufsicht», in Verwaltung +Organisation, 340/1986, S. 41 ff.
[6] Solothurn : SZ, 23.2.85 ; 29.6.-2.7.85 ; 28.11.85. Von einer Bestrafung nahm das Obergericht Abstand, da es den Angeschuldigten einen Rechtsirrtum zubilligte; der Staatsanwalt legte dagegen Berufung ein. Graubünden: Ww, 27.6.85; NZZ, 14.11.85.
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