Année politique Suisse 1985 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Gerichte
Um der chronischen Überbelastung der beiden eidgenössischen Gerichte Einhalt zu gebieten, ohne laufend deren Personaletat zu erhöhen, schlägt der Bundesrat eine Teilrevision des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vor. Mittels prozessualer und organisatorischer Massnahmen sollen die Gerichte in die Lage versetzt werden, einerseits die Behandlungsfristen zu verkürzen und andererseits durch eine Beschränkung auf Wesentliches die Qualität der Rechtssprechung zu verbessern. Als grundlegende Neuerung wird die Einführung eines Annahmeverfahrens vorgeschlagen. Dies hätte zur Folge, dass sich der Bürger nur noch in Fällen von erheblicher Bedeutung an die eidgenössischen Gerichte würde wenden können. An diesem in der schweizerischen Rechtstradition nicht bekannten und sowohl von der Expertenkommission Dubs als auch von einer Mehrheit der Vernehmlasser und vom Bundesgericht selbst abgelehnten Verfahren will der Bundesrat festhalten, da er sich davon die grössten Entlastungsmöglichkeiten verspricht. Um den Rechtsschutz des Bürgers nicht übermässig zu beschneiden, soll das Annahmeverfahren freilich nur dort eingesetzt werden, wo als Vorinstanz eine richterliche Behörde entschieden hat. Dies wiederum erfordert einen Ausbau der verwaltungsrichterlichen Vorinstanzen sowohl beim Bund als auch in den Kantonen. Gemäss dem bundesrätlichen Vorschlag sind von den beiden eidgenössischen Gerichten insbesondere Streitsachen anzunehmen, die Fragen aufwerfen, welche von ihnen noch nicht beurteilt worden sind bzw. einer erneuten Prüfung bedürfen, oder bei denen der Entscheid der untergeordneten Instanz von ihrer eigenen Praxis abweicht. Unter den weiteren Massnahmen, die den Zugang zu den Gerichten erschweren sollen, ist insbesondere die Erhöhung der Streitwertgrenze bei zivilrechtlichen Berufungen von 8 000 Fr. auf 30 000 Fr. zu erwähnen. Andere Neuerungen sehen vor, das Entscheidverfahren der eidgenössischen Gerichte zu vereinfachen. Dies soll unter anderem dadurch erreicht werden, dass anstelle der heutigen Fünferbesetzung die Dreierbesetzung des Gerichts zur Regel wird. Durch den Ausbau der Stabsdienste soll den Bundesrichtern zudem eine effizientere Arbeitsweise ermöglicht werden [17].
Wie nach den Ergebnissen des Vernehmlassungsverfahrens nicht anders zu erwarten war, stiess der Entwurf zum Teil auf heftige Kritik. Der Berufsverband «Demokratische Juristen» lehnte namentlich das Annahmeverfahren als undemokratisch ab, und ein Sprecher des Schweiz. Anwaltsverbands bezeichete dieses für den Bereich der staatsrechtlichen Beschwerde sogar als verfassungswidrig [18].
Nachem Öffentlichkeit und Parlament die nebenamtliche Schiedsgerichtstätigkeit einzelner Bundesrichter beanstandet hatten, gab sich das Bundesgericht eine diesbezügliche neue Regelung. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats; welche sich speziell mit dieser Frage auseinandergesetzt hatte, anerkannte diese Bemühungen, möchte aber eine noch restriktivere Regelung für die Zukunft nicht ausschliessen [19].
 
[17] BBl, 1985, II, S. 737 ff. Zur Vernehmlassung v. SPJ, 1983, S. 25. Stellungnahme des Bundesgerichts zum Annahmeverfahren: Gesch.ber., 1985, S. 370 f. Zur Überlastung und den Arbeitsbedingungen siehe Gesch.ber., 1985, S. 370 und 385 ff.; BaZ, 8.5.85; 10.5.85; 15.5.85; BZ, 17.8.85 (M. Schubarth).
[18] « Demokratische Juristen» : TW, 14.5.85 ; LM, 15.11.85. Anwaltsverband: SGT, 31.5.85. Zur Verfassungskonformität des Annahmeverfahrens bei staatsrechtlichen Beschwerden siehe auch die (Ausführungen in der Botschaft (BBl, 1985, II, S. 781 ff.).
[19] Amtl. Bull. StR, 1985, S. 300 f. Im gleichen Sinn äusserte sich auch die GPK des NR (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1087). NR Butty (cvp, FR) verlangt mit einer parlamentarischen Inititial:ive die Überprüfung des Bundesbeschlusses über die schiedsrichterliche Tätigkeit der Mitglieder des Bundesgerichts (Verh. B.vers., 1985, V, S. 19). Vgl. dazu auch SPJ, 1984, S. 27 und Amtl. Bull. NR, 1985, S. 738 f.