Année politique Suisse 1985 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Volksrechte
Die Volksrechte wurden 1985 etwa gleich rege genutzt wie in den vergangenen Jahren. Vier neue Volksinitiativen wurden eingereicht (1984: 3), darunter mit einer Rekordunterschriftenzahl von 390 273 die Krankenkasseninitiative; acht weitere Vorstösse (1984: 6) wurden lanciert. Da der Souverän über drei Initiativen abstimmte, erhöhte sich die Zahl der Ende 1985 noch nicht erledigten zustandegekommenen Initiativen um eine auf 17. Für 13 bei der Bundeskanzlei angemeldete Begehren wurden zu diesem Zeitpunkt noch Unterschriften gesammelt. Das Referendum richtete sich im Berichtsjahr gegen eine Vorlage (Zuckerbeschluss) [20].
Bezüglich der Bundesrat und Parlament zur Behandlung einer Volksinitiative zur Verfügung stehenden Zeit kam es zu einem Kompromiss. Auf Antrag seiner Kommission für die Parlamentsreform beschloss der Nationalrat, die Fristen zuungunsten der Regierung zu verändern. Während die bestehende Regelung der Exekutive bei Initiativen in der Form ausgearbeiteter Entwürfe drei Jahre zur Ausarbeitung einer Stellungnahme einräumt, sollen sich zukünftig beide Instanzen hälftig in die vierjährige Behandlungsfrist teilen. Falls die Regierung einen Gegenentwurf ausarbeitet, verlängert sich ihre Behandlungsfrist auf 2½ Jahre. In diesem Fall kann das Parlament eine Ausdehnung der insgesamt zur Verfügung stehenden Zeit von 4 auf 5 Jahre beschliessen [21].
Die Neuregelung des Verfahrens bei Volksabstimmungen, bei denen sich eine Initiative und ein Gegenvorschlag gegenüberstehen, wurde im Berichtsjahr von beiden Parlamentskammern behandelt. In der Frühjahrssession kam das Geschäft vór den Ständerat. Die vorberatende Kommission beantragte Zustimmung zum Entwurf des Bundesrats, der die Einführung des doppelten Ja und eine Stichfrage über die bevorzugte Variante vorsieht. Obwohl auch im Plenum mehr Befürworter als Gegner das Wort ergriffen, beschloss der Rat mit 28 zu 13 Stimmen Nichteintreten. Nach Ansicht der Opponenten ist das Prozedere für den Bürger zu kompliziert und erschwert den Parteien die Parolenfassung. Das Hauptgewicht der gegnerischen Argumente bezog sich allerdings nicht auf das zur Diskussion gestellte Verfahren, sondern auf die Konsequenzen, welche sich daraus für das politische Leben ergeben könnten. Mit der Neuerung würde gemäss den Kritikern eine Hürde gegen Verfassungsrevisionen abgebaut, die sich bisher positiv ausgewirkt habe, und zudem das Instrument der Initiative aufgewertet. Eine derartige Verlagerung der legislatorischen Macht vom Parlament auf den Stimmbürger ist nach den Worten des Sprechers der Kommissionsminderheit H. Moll (fdp, TG) unerwünscht [22]. Gerade diese Einwände stiessen bei namhaften Staatsrechtlern auf Widerspruch, gehe es doch einzig und allein darum, die durch das gültige System gegebene potentielle Verfälschung des Volkswillens zu beheben. Wenn das Parlament die Ausübung des Initiativrechts weniger attraktiv gestalten wolle, so dürfe dies nicht dadurch geschehen, dass an einem unkorrekten Verfahren festgehalten werde [23].
Im Nationalrat, der sich in der Dezembersession mit der Vorlage auseinanderzusetzen hatte, wiederholten sich die Argumente aus dem Ständerat. Die Fraktionen der CVP, der FDP und der SVP sprachen sich mehrheitlich, diejenige der LPS geschlossen gegen eine Veränderung des bestehenden Zustands aus. Bei den unter Namensaufruf durchgeführten Abstimmungen zeigte sich jedoch, dass rund ein Drittel der Vertreter der bürgerlichen Regierungsparteien ein positives Votum abgaben. Dies reichte knapp aus, um gemeinsam mit den Stimmen der einhellig für die Revision eintretenden übrigen Parteien dem bundesrätlichen Projekt zum Durchbruch zu verhelfen. Der vom Freisinnigen Steinegger (UR) gestellte Antrag, das doppelte Ja weiterhin zu untersagen, aber die Ermittlung des absoluten Mehrs getrennt vorzunehmen, unterlag dem Entwurf des Bundesrats mit 94:84 Stimmen [24].
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H.H.
 
[20] wf, Initiativen + Referenden — Stand 1. Januar 1986, Zürich 1986; Verh. B.vers., 1985, V, S. 96 f. Krankenkasseninitiative: BBl, 1985, II, S. 519 ff.; AT, 10.7.85. Nichtzustandekommen: BBl, 1985, I, S. 995 (Bordelle) und 1252 (Todesstrafe für Drogenhändler). Referendum : BBl, 1985, II, S. 1477 f. und unten, Teil I, 4c (Pflanzliche Produktion). Vgl. auch SPJ, 1984, S 27. Zum Gebrauch der Volksrechte auf kantonaler Ebene siehe unten, Teil II (Allgemeine Gesichtspunkte).
[21] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2229 f.; vgl. auch SPJ, 1983, S. 25 f. und 1984, S. 27.
[22] Amtl. Bull. StR, 1985, S. 199 ff. Siehe auch SPJ, 1984, S. 27. Vgl. für die ablehnenden Argumente im weitern wf, Dok., 3, 21.1.85.
[23] R. A. Rhinow, «Zum Verfahren bei Doppelabstimmungen», in NZZ, 16.4.85 ; BaZ, 13.4.85 (Stellungnahme von 27 Staats- und Verwaltungsrechtsprofessoren). Der Staatsrechtler und Ständerat Jagmetti (fdp, ZH) seinerseits schlägt als Kompromisslösung das «Zürcher Modell» vor. Dieses verzichtet auf die Stichfrage und lässt bei einer Zustimmung zu beiden Varianten diejenige in Kraft treten, welche das bessere Ergebnis erzielt (BZ, 23.4.85).
[24] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2094 ff. Die Stimmenverhältnisse lauteten 107:86 (Eintreten) resp. 93:74 (Gesamtabstimmung). Der Vorschlag Steinegger hätte zur Folge, dass die Leerstimmen ausser Betracht fallen und damit nicht mehr de facto zu Nein-Stimmen werden. Siehe auch H.-U. Wili, «Nein oder nicht nein, das ist hier die Frage», in Zeitschrift für schweiz. Recht, NF, 104/1985, I, S. 527 ff. Diskussionslos überwies der NR eine parlamentarische Initiative von Verena Spörry (fdp, ZH), die genaue Regeln für die Reihenfolge der Abstimmungen über Initiative und Gegenvorschlag in den beiden Räten fixieren will (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2128 f. sowie NZZ, 26.2.85).