Année politique Suisse 1985 : Wirtschaft / Landwirtschaft
Agrarpolitik
Die schweizerische Agrarpolitik geriet 1985 vermehrt ins Schussfeld der Kritik. Gaben in früheren Jahren meistens einzelne aktuelle Massnahmen Anlass zu Unmutsbekundungen, so wurde im Berichtsjahr der
landwirtschaftspolitische Kurs grundsätzlich und von prominenter Seite in Frage gestellt: Bundesrat Stich warf vor dem Aargauischen Gewerkschaftsbund die Frage auf, ob sich die Schweiz mit kaum mehr als 6% Beschäftigten im Primärsektor Subventionen in Milliardenhöhe für die Landwirtschaft überhaupt noch leisten könne, und verwies dabei namentlich auf die Milchrechnung von 1984, die auf über 800 Mio Fr. gestiegen war. Der ehemalige Präsident der Schweizerischen Nationalbank Leutwiler geisselte am internationalen Managementsymposium in St. Gallen den Agrarprotektionismus, der die Schweiz insgesamt auf 5 Mia Fr. zu stehen komme, und verlangte eine entsprechende Information der Bevölkerung, damit diese zur Landwirtschafts- und Subventionspolitik Stellung nehmen könne. Ihren Unmut über die heutige Landwirtschaftspolitik äusserten neben den Linksparteien erneut auch wirtschaftsliberale Kreise und der LdU. Die Wirtschaftsförderung bezweifelte, dass die Aufwendungen für die protektionistische Agrarhandelspolitik — vor allem auch angesichts der Überproduktion in einigen Sektoren — noch zieladäquat seien und plädierte für eine Trennung von Preis- und Einkommenspolitik. Der LdU präsentierte Grundsätze für eine neue Landwirtschaftspolitik, welche das heutige System der staatlichen Preisstützung, Abnahmegarantie und produktionsbezogenen Subventionierung ablösen könne; im Bereich der Agrarproduktion müssten wieder marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen hergestellt werden, wobei das bäuerliche Einkommen durch abgestufte, produktionsunabhängige und flächenbezogene Direktzahlungen zu garantieren sei
[1]. Der Schweizerische Bauernverband (SBV) reagierte geharnischt auf solche liberalistische Kritik, welche die agrarpolitische Stimmung in der Bevölkerung massiv verschlechtere, und verwahrte sich dagegen, dass Zahlen von Landwirtschaftssubventionen so pauschal und ohne volkswirtschaftliche Differenzierung präsentiert würden. Es sei zudem nicht statthaft, für die schweizerische Landwirtschaft mehr Markt zu fordern, da alle Industriestaaten mit subventionierten und die Entwicklungsländer mit Liquidationspreisen handelten. Im weiteren verwies der SBV auf den stetig fallenden Anteil der Landwirtschaftsausgaben bei den Bundesfinanzen und auf die generell hohen Produktionskosten, welche eben einen teuren Agrarschutz zur Folge hätten
[2].
Eine Möglichkeit für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Agrarpolitik bot sich dem eidgenössischen Parlament im Zusammenhang mit dem
6. Landwirtschaftsbericht, der als landwirtschaftspolitisches Nachschlagewerk von allen Seiten gute Noten erhielt. Der Ständerat als Erstrat zeigte sich befriedigt über die bisherige und auch weiterhin angestrebte Politik und genehmigte den vorgelegten Bericht in diesem Sinn. Kritik äusserten nur der Freisinnige Affolter (SO), der die Preis- und die bäuerliche Einkommenspolitik stärker voneinander trennen wollte, und die Sozialdemokraten Miville (BS) und Piller (FR); letztere regten zugunsten der kleinen und mittleren sowie der ökologisch produzierenden Bauernbetriebe eine gerechtere Verteilung der finanziellen Mittel durch eine Preisstaffelung nach Produktionskosten an. Mehrheitliche Zustimmung erntete die im Landwirtschaftsbericht skizzierte Politik des Bundesrates auch in der grossen Kammer, doch die Kritik — namentlich an der Überflussproduktion in einigen Sektoren — fiel breiter und heftiger als im Ständerat aus. Ausdruck eines Meinungsumschwungs zugunsten von Direktzahlungen auch ausserhalb des Berggebiets war ein überwiesenes Postulat, welches vom Bundesrat einen Bericht verlangte über die Auswirkungen einer verstärkten Ausrichtung der bäuerlichen Einkommenssicherung auf ein Konzept produktionslenkender Preise mit ergänzenden Direktzuschlägen. Nur knapp abgelehnt wurde ferner ein Vorstoss für eine gerechtere Verteilung des Agrarschutzes; bäuerliche Vertreter befürchteten, dass mit dieser Forderung nach einem Abbau der innerlandwirtschaftlichen Einkommensunterschiede der Einführung einer Preisdifferenzierung das Wort geredet würde. Zwei weitere Kommissionspostulate wiederum fanden eine Ratsmehrheit: Das eine betraf die Gleichstellung der Bäuerinnen bei der Paritätslohnberechnung, das andere regte eine gesetzliche Änderung des Alkoholgesetzes an, um Selbsthilfemassnahmen gegen strukturelle Überschüsse in der Tafelobstproduktion zu verwirklichen
[3].
Angesichts des übersättigten Milch- und Fleischmarktes, aber auch unter dem Einfluss der heftigen Kritik an der Landwirtschaftspolitik verzichtete der SBV bei seiner Eingabe an den Bundesrat zur
Einkommenssicherung im Agrarsektor auf allgemeine Preisforderungen. Das Begehren konzentrierte sich auf eine Hebung des Einkommens für die Berglandwirtschaft sowie auf Massnahmen zur Verbesserung der Produktionsgrundlagen. Wie schon in den vergangenen Jahren forderte der SBV eine flexiblere Handhabung des aussenwirtschaftlichen Instrumentariums zum Schutz der inländischen Produkte. Ungehalten über dieses Eingabe zeigte sich die Vereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern (VKMB): Obwohl die Einkommensunterschiede zwischen Klein- und Grossbauern im Talgebiet wesentlich grösser seien als jene zwischen Berg- und Talbauern, hätte der SBV erneut auf Forderungen zugunsten der kleinen und mittleren Talbetriebe verzichtet. Die VKMB erinnerte daran, dass mit Preisdifferenzierungen und vermehrten Beitragszahlungen die kleinen und mittleren Talbetriebe wirkungsvoll gestützt werden könnten
[4]. Der Bundesrat beschränkte sich bei seinen Preisbeschlüssen zur Hauptsache auf Lenkungsmassnahmen bei der Milch- und Fleischproduktion: Produzenten, die ihr Milchkontingent überziehen, sollen künftig höhere Strafabgaben bezahlen, und der milchgenossenschaftliche Ausgleich soll eingeschränkt werden; dadurch dürfte die Milchproduktion um 30 000 t verringert und die Milchrechnung um 30-40 Mio Fr. entlastet werden. Als Massnahme zur Senkung der Attraktivität der industriellen Fleischproduktion sowie zur Förderung des inländischen Futtergetreideanbaus verteuerte der Bundesrat die Futtermittelimporte. Weiter wurden die Investitionshilfen aufgestockt und für gewisse Teilbereiche Einkommensverbesserungen gewährt. Von diesen Besclilüssen werden die Konsumenten nur gering betroffen; der Bundeskasse erwachsen Mehrausgaben von 30 Mio Fr. und voraussichtlich Mehreinnahmen von 20 Mio Fr.
[5].
[1] wf, Artikeldienst, 11, 18.3.85; wf, Kurzkommentare, 47, 25.11.85; Vat., 3.4.85 BaZ, 6.4.85; 21.5.85; 13.6.85; 5.7.85; 3.9.85; Wir Brückenbauer, 20, 15.5.85; 31, 31.7.85; TA, 22.5.85; 2.9.85; NZZ, 1.6.85; SGT, 1.6.85; LNN, 8.6.85. Vgl. auch Ww, 24, 13.6.85; 38, 19.9.85; 39, 26.9.85; LID, Dokumentationsdienst, 248, 24.9.85; 249, 22.10.85; WoZ, 27, 5.7.85 — 31, 31.7.85; Schweizer Monatshefte, 65/1985, S.101 ff. und 817 ff.; Gnueg Heu dune!, 1985, Nr. 3; Bilanz, 1985, Nr. 11. Siehe ferner Jahresbericht des Schweizerischen Bauernverbandes, 88/1985; C. Quartier, Agrofictions pour l'an 2000 et +, Lausanne 1985; Ph. Halbherr / A. Müdespacher, Agrarpolitik — Interessenspolitik?, Bern 1985 ; R. Jörin / P. Rieder, Parastaatliche Organisationen im Agrarsektor, Bern 1985; P. Moor, Agriculture, Lausanne 1985; H. Brugger, Die schweizerische Landwirtschaft 1914-1980, Frauenfeld 1985; H. Priebe, Die subventionierte Unvernunft. Landwirtschaft und Naturhaushalt, Berlin 1985. Landwirtschaftliches Jahr 1985: LID, Dokumentationsdienst, 251, 18.12.85. Vgl. auch SPJ, 1984, S. 90 f.
[2] TA, 22.5.85; LID, Pressedienst, 1394, 24.5.85; IBZ, 22, 31.5.85; 27, 5.7.85; 47, 22.11.85; NZZ, 5.6.85; 20.11.85; LNN, 8.6.85; Bund, 30.8.85. Siehe auch die Stellungnahmen von BR Furgler: NZZ, 25.5.85; LID, Pressedienst, 1404, 2.8.85; IBZ, 32, 9.8.85. Landwirtschaftsausgaben: IBZ, 20, 17.5.85; wf, Kurzinformationen, 44, 4.11.85.
[3] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1513 ff. und 1551 ff.; Amtl. Bull. StR, 1985, S. 434 ff. und 450 ff.; Wir Brückenbauer, 11, 13.3.85; Presse vom 21.6.85; 26. und 27.9.85; TA, 25.9.85; Coop-Zeitung, 42, 17.10.85. Siehe auch die als Postulat überwiesene Motion Cottet (cvp, FR) zur Prüfung weiterer landwirtschaftlicher Leitbilder und das Postulat Biel (ldu, ZH), welches einen Kurswechsel in der Agrarpolitik anregte (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1573 ff.). Stellungnahme des SBV : IBZ, 3, 22.1.85. Vgl. auch SPJ, 1984, S. 90 f.
[4] Preisbegehren: NZZ, 6.4.85; IBZ, 15, 12.4.85; 16, 19.4.85; LID, Pressedienst, 1388, 12.4.85; Ww, 16, 18.4.85; Union, 5, 1.5.85; Gnueg Heu dune!, 1985, Nr. 5. Zum Paritätslohn vgl. IBZ, 5, 1.2.85; 6, 8.2.85; 18, 3.5.85; wf, Kurzinformationen, 7, 18.2.85; BZ, 13.3.85; NZZ, 13.3.85; Bund, 22.8.85; Gnueg Heu dune!, 1985, Nr. 1; zur Agrarhandelspolitik siehe wf, Dokumentation zur Wirtschaftskunde, 1985, Nr. 86. Preisdifferenzierung: Presse vom 4.2.85; Gnueg Heu dune!, 1985, Nr. 2 und 5; E. Hofer, Preisdifferenzierung in der Landwirtschaft, Brugg 1985. Siehe auch SPJ, 1984, S. 91 f. Vgl. ferner Die Berglandwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie, Bern (1985).
[5] Preisbeschluss: Presse vom 18.6.85; IBZ, 25, 21.6.85; Union, 7, 3.7.85. Zur bäuerlichen Einkommensentwicklung siehe wf, Kurzinformationen, 7, 18.2.85; LID, Dokumentationsdienst, 246, 13.8.85. Bei den Beratungen des Budgets für 1986 erhöhten die eidgenössischen Räte die Bundesbeiträge für Verbesserungen der Wohnverhältnisse in Berggebieten von 13 auf 19 Mio Fr. (Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2205 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1985, S. 703 ff. LNN, 11.2.85). Vgl auch SPJ, 1984, S. 92.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Dieser Text wurde ab Papier eingescannt und kann daher Fehler enthalten.