Année politique Suisse 1985 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation / Eisenbahnverkehr
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Neue Alpentransversale
Keineswegs befriedigt vom Projekt «Bahn 2000» zeigte sich die Tessiner Regierung. Sie besteht darauf, dass mit dem vorgesehenen Ausbau der Ost-West-Achse eine neue Eisenbahn-Alpentransversale verbunden wird und hält das Konzept eines Eisenbahnnetzes des 21. Jahrhunderts für unvollständig, wenn der Wunsch nach einer schnelleren Alpendurchquerung nicht einbezogen wird. Nachdem Bundesrat und Parlament ein neues Alpenbahnprojekt vorläufig zurückgestellt hatten, da die Transportkapazitäten mit dem Ausbau der Lötschberglinie auf Doppelspur bis nach der Jahrtausendwende genügten, kritisierten sowohl die Regierungen der Kantone im Einzugsgebiet des Gotthards als auch diejenigen der Ostschweiz diesen Entscheid als verfehlt: Der Bau einer neuen Alpentransversale dürfe nicht allein von Verkehrsprognosen und dem finanziellen Ertrag abhängen; entscheidend sei die neue Konkurrenzfähigkeit einer solchen Bahn gegenüber der Strasse und die Verminderung der sozialen Kosten vor allem in bezug auf die Belastung der Umwelt. Weil zudem die Kapazität der Gotthard-Autobahn wegen des rasch zunehmenden Schwerverkehrs in absehbarer Zeit voll ausgelastet sei und sich das Problem einer zweiten Autotunnelröhre stelle, drängten sie auf einen raschen Entscheid, denn nur mit einem vorher spruchreifen Bahn-Basistunnel könne der weitere Ausbau der N 2 und somit eine noch stärkere Abwanderung des Verkehrs auf die Strasse verhindert werden. Bezüglich der Linienführung (Gotthard- oder Splügen-Basistunnel) gingen die Meinungen allerdings nach wie vor auseinander [20].
Mit einer parlamentarischen Initiative unterbreitete Ständerat Cavelty (cvp, GR) eine nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch politisch gezielte Verständigungslösung: das «Alpen-Y», das die Vorteile der beiden umstrittenen Varianten in einem einzigen, billigeren Projekt vereinen soll. Dieser Y-Tunnel würde im Süden oberhalb Biasca im Bleniotal beginnen und sich südlich von Disentis in zwei Aste, einen westlichen nach Amsteg (UR) und einen östlichen nach Trun (GR), aufteilen. Zwischen Amsteg und Erstfeld würde an die bestehende Gotthardbahn, in Trun an eine neu zu erstellende Normalspurstrecke Disentis–Chur angeschlossen. Während die an der Gotthardstrecke liegenden Kantone diesen Vorschlag mindestens für prüfenswert hielten, zeigten sich die Ostschweizer ablehnend und kritisierten insbesondere, dass mit der Y-Variante der gesamte Nord-Süd-Verkehr nach Biasca geführt und sich in den Raum Bellinzona–Chiasso–Mailand ergiessen würde. Die Anhänger der Splügenbahn wiesen daher einmal mehr auf die Vorteile einer Linienführung über Chur nach Chiavenna–Mailand hin, welche auch von Vorarlberg und der Lombardei bevorzugt wird [21]. Nachdem die vier Bundesratsparteien in ihrem gemeinsamen Aktionsprogramm zur Förderung des öffentlichen Verkehrs für die stärkere Verlagerung des Nord-Süd-Transit-Schwerverkehrs auf die Schiene plädiert und auf einen möglichst raschen Linienentscheid bezüglich einer neuen Eisenbahn-Alpentransversale gedrängt hatten, fand auch im Nationalrat ein Meinungsumschwung statt, wobei vor allem verkehrspolitische und ökologische Argumente ausschlaggebend waren: Gegen den Willen des Bundesrates überwiesen die Volksvertreter in ihrer Dezembersession mit 107 zu 32 Stimmen eine Motion des Tessiner Freisinnigen Salvioni, die das Vorantreiben der Planungsarbeiten und — in einem nur als Postulat überwiesenen Teil — einen beschleunigten Baubeginn der neuen Alpendurchquerung verlangte [22].
In der Diskussion über eine Interpellation von Nationalrat Ruffy (sp, VD) betreffend eine direkte TGV-Verbindung Paris–Mailand forderten die Westschweizer Vertreter vom Bundesrat einen energischen Einsatz zugunsten der Linienführung über Lausanne–Brig–Simplon, da sie von der Konkurrenz durch eine Verbindung via den französisch-italienischen Mont-Cenis-Tunnel erhebliche volkswirtschaftliche Nachteile befürchten [23]. Auf vehementen Protest vor allem im Wallis stiess die Absicht der SBB, den Autotransport durch den Simplontunnel ganz einzustellen, da dieser Dienst stark defizitär ist und der Autoverlad seit dem Ausbau der N9 über den Simplonpass um die Hälfte abgenommen hat. Den verkehrs- und umweltpolitischen Argumenten Rechnung tragend, beschloss der Bundesrat darauf eine versuchsweise Weiterführung dieser Dienstleistung während dreier Jahre. Gleichzeitig wurde im Rahmen der Ausführungsverordnung zum Treibstoffzollgesetz der Transport begleiteter Motorfahrzeuge auf den Übergängen Simplon, Lötschberg, Furka, Oberalp und Albula verbilligt [24].
 
[20] Position des Tessins und der Kantone AG, BL, BS, JU, LU, NW, O W, SO, SZ und UR : BaZ, 19.2.85 (Studie des TI zur Alpentransversale durch den Gotthard); CdT, 7.3.85; Vat., 8.10.85; 22.10.85; 19.12.85; TA, 17.10.85. Mit einer Eingabe an den BR forderten die Ostschweizer Kantone (AI, AR, GL, GR, SG, SH, TG), die Planungsgrundlagen für die Splügenbahn voranzutreiben, damit beide Varianten vergleichbar werden und bald ein Entscheid getroffen werden könne (SGT, 1.3.85 ; 6.6.85 ; 8.6.85). Siehe auch HA. Bertschi, Der alpenquerende Verkehr, dargestellt am Ausbau einer neuen Eisenbahntransversale durch die Schweiz, Bern 1985 sowie SGT, 17.6.85 und TA, 3.8.85. Vgl. ferner SPJ, 1975, S. 106 f; 1980, S. 102; 1984, S. 111.
[21] «Alpen-Y»: Verhandl. B.vers., 1985, III, S. 19; SGT, 11.6.85; 21.9.85; BaZ, 14.6.85; Vat., 9.7.85. Zur Splügenvariante siehe das überwiesene Postulat Weber (sp, TG): Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2082 ff.
[22] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 2080 ff.; Presse vom 17.12.85. Siehe auch NZZ, 19.12.851; BZ und TA, 27.12.85. Vgl. ferner die beiden von der sozialdemokratischen NR-Fraktion eingereichten Motidnen (Verhandl. B. vers., 1985, I, S. 39 und IV, S. 36).
[23] Amtl. Bull. NR, 1985, S. 760 f. und 2092 ff.; 24 Heures, 30.1.85; Bund, 10.7.85. Siehe auch die Bleichlautenden Motionen zum Ausbau der Simplonlinie, welche die beiden Walliser Christlichdemokraten Schmidhalter im NR und Lauber im StR eingereicht hatten ( Verhandl. B.vers., 1985, III, S. 77 bzw. 88). Vgl. ferner NZZ, 16.3.85 und L. Theler, «Erweist sich der Lötschberg als Milliardenblinddarm?», in Ww, 38, 19.9.85.
[24] AS, 1985, S. 1887 ff. und 1893 ff.; TA, 5.8.85; 28.9.85; Presse vom 3.9.85; 22.10.85; 21.11.85; NZZ, 31.10.85.