Année politique Suisse 1985 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Sprachgruppen
Das Verhältnis zwischen den Angehörigen verschiedener Sprache wurde weiterhin diskutiert [8]. Die fünf Idiome (Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putèr, Vallader) der kleinsten Sprachgruppe der Schweiz, der Rätoromanen, werden noch von 51 000 Personen, d.h. von 0,8% der Gesamtbevölkerung gesprochen; von diesen leben 36 000 im Kanton Graubünden. Das Jahr 1985 wurde vom rätoromanischen Dachverband Lia Rumantscha/Ligia Romontscha (LR) zum Jubiläumsjahr «2000 Onns Retoromania» proklamiert; dies in Erinnerung an die römische Unterwerfung Rätiens, die um 15 vor Christus einsetzte. Das von der Eroberern mitgebrachte Volkslatein steht am Ausganspunkt der Herausbildung der romanischen Idiome. Jubiläumshöhepunkt bildete im August eine einwöchige «Scuntrada dal pievel rumantsch» (Begegnung des romanischen Volkes) in Savognin, der ein unerwarteter Publikumserfolg beschieden war. Kurse, Vorträge, Tagungen, Theaterfestivals, Ausstellungen und andere Veranstaltungen mit Werkstattcharakter boten einen Querschnitt durch das traditionelle Kulturgut und die Tagesproblematik der romanischsprachigen Gebiete Graubündens. Die Verantwortlichen zogen eine positive Bilanz und glaubten eine breite Sensibilisierung und gestärkte Identität der Romanen feststellen zu können [9].
Die dazu notwendigen institutionellen Voraussetzungen werden Schritt für Schritt verbessert: Zum Jubiläumsjahr wurde das erste Wörterbuch und die erste Grammatik der neuen gesamtromanischen Schriftsprache Rumantsch Grischun veröffentlicht, die neue Doppelprofessur an ETH und Universität Zürich für rätoromanische Literatur und Kultur wurde mit dem ehemaligen LR-Sekretär Iso Camartin besetzt, und der Nationalrat nahm im geänderten Publikationsgesetz eine Bestimmung auf, wonach Bundesgesetze von besonderer Tragweite in Absprache mit der Bündner Regierung im Bundesblatt auch in romanischer Sprache veröffentlicht werden sollen. Tatsächlich wurden schon 1985 eine Botschaft (Kurzfassung zum UNO-Beitritt) und zum erstenmal auch die Erläuterungen zu einer eidgenössischen Volksabstimmung (Vivisektions-Initiative) auf Rumantsch Grischun publiziert. Der Nationalrat überwies im weiteren eine Motion Bundi (sp, GR) betreffend Erhaltung der romanischen Sprache. Diese fordert namentlich vom Bund Unterstützung von Massnahmen zur Erhaltung des überlieferten Sprachgebietes bedrohter Minderheiten und eine angemessene Berücksichtigung des Rätoromanischen beim Vollzug des Bundesrechts im romanischen Sprachgebiet. Damit könnte eine gesetzliche Grundlage für die Verwendung von Rumantsch Grischun im Handelsregister, im Grundbuch, in den Zivilstandsämtern usw. geschaffen werden. Ein zu Jahresbeginn publizierter Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahre 1984 hatte einer Stiftung mit Sitz im rätoromanischen Sprachgebiet die Eintragung im Handelsregister in romanischer Sprache noch untersagt [10].
Das Verhältnis zwischen Deutsch- und Französischsprachigen blieb etwas im publizistischen Schatten des romanischen Jubiläumsjahrs. Konkrete Bemühungen, wie der vom Kanton Genf angeregte Beamtenaustausch, kamen nur in Einzelfällen vom Fleck. Welsche Medien setzten sich vermehrt mit dem Vormarsch des Dialekts in der Deutschschweiz auseinander, der eine Verständigung zunehmend erschwert. Sie befürchteten namentlich dessen Einbruch in Bereiche, in denen das Hochdeutsche bisher dominierend war, wie Radio, Fernsehen, Schule und Werbung. Mit Ausnahme von Äusserungen einiger sprachnationalistischer Exponenten wurde die Lage jedoch nicht dramatisiert. Der Genfer Regierungsrat Vernet (lp) sprach sich gegen Bemühungen aus, die französischsprachigen Kantone zu einem einheitlichen Block zu formen; es gebe keine eigentliche Romandie, sondern nur mehrere «Etats confédérés». Dies bewies denn auch die unterschiedliche Reaktion der Westschweizer Kantone zum Entscheid des Bundesrates, am Frankophoniegipfel in Paris nicht teilzunehmen [11].
 
[8] Publikationen zur Sprachsituation, namentlich in Graubünden : I. Camartin, Nichts als Worte? Ein Plädoyer für Kleinsprachen, Zürich 1985; J. Hösle, «Ein Plädoyer für Kleinsprachen», in Schweizer Monatshefte, 65/1985, S. 975 ff.; A. Decurtins, «Il romontsch. In model per la sort da minoritad's linguisticas e culturalas? / Das Rätoromanisch. Modellfall für das Schicksal sprachlich-kultureller Minderheiten», in Civitas, 40/1985, S. 138 ff.; L. Schlumpf, «2000 Onns Retoromania / 2000 Jahre Retoromania», in Documenta, 1985, Nr. 2, S. 23 ff.; La Suisse aux quatre langues, Genève, 1985.
[9] Scuntrada: BZ, 2.8.85; 5.8.85; NZZ, 2.8.85; 8.8.85; 12.8.85; TA, 6.8.85; 13.8.85; JdG, 13.8.85; CdT, 23.8.85. Grössere allgemeine Artikel zum Retoromania-Jubiläum: Ww, 10, 7.3.85; Vat., 18.5.85; 19.6.85; TA, 11.7.85; 5.8.85; BZ, 1.8.85; BaZ, 7.8.85; SGT, 9.8.85; 10.10.85; 24 Heures, 10.8.85; NZZ, 24.8.85.
[10] Wörterbuch: BaZ, 27.4.85; Ww, 31, 1.8.85; vgl. Pledari rumantsch grischun — tudestg, tudestg — rumantsch grischun e Grammatica elementara dal rumantsch grischun, Chur 1985. Professur: NZZ, 10.10.85; 3.12.85; vgl. SPJ, 1983, 5.175. Publikationsgesetz: AT, 22.6.85; vgl. auch unten. UNO-Botschaft: NZZ, 27.7.85. Abstimmungserläuterungen: BaZ, 16.10.85. Motion Bundi: Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1814f.; Vat., 3.9.85; 24 Heures, 3.9.85 ; Bund, 5.10.85 ; mit der Annahme der Motion zog NR Longet (sp, GE) seine parlamentarische Initiative betreffend Anerkennung des Rätoromanischen als Amtssprache zurück, vgl. Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1952 ff. und SPJ, 1982, S. 154. Bundesgericht: NZZ, 2.2.85; vgl. dazu auch die Antwort des BR auf die Interpellation von NR Cantieni (cvp, GR): Amtl. Bull. NR, 1985, S. 1271; NZZ, 20.2.85; 14.5.85.
[11] Beamtenaustausch: NZZ, 23.1.85; SGT, 29.1.85; AT, 17.4.85; 24 Heures, 8.8.85; vgl. SPJ, 1984, 5.166. Dialekt: NZZ, 22.7.85; Bund, 18.12.85. Vernet: JdG, 1.6.85. Frankophonie-Gipfel: Westschweizer Presse vom 19.12.85; BaZ, 27.12.85; vgl. oben, Teil I, 2 (Relation bilatérales).