Année politique Suisse 1986 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Parteiensystem
Die Entwicklung des schweizerischen Parteiensystems war 1986 Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Studien. Im Rahmen des auf Befragung gestützten, breit angelegten Projekts Univox wurde festgestellt, dass in der Bevölkerung die erklärten Sympathien für eine bestimmte Partei seit 1981 deutlich abgenommen haben, so dass die keiner Partei Nahestehenden zur Mehrheit geworden sind. Der Rückgang liegt bei den Bundesratsparteien in der Grössenordnung von einem Viertel, und zwar am stärksten bei der SP, während die kleineren Formationen insgesamt ihren Anteil gehalten haben [1]. Den Problemen, vor denen die schweizerischen Parteien heute stehen, und ihren vielfältigen Ursachen widmete die Schweizerische Vereinigung für Politische Wissenschaft ihr Jahrbuch. Den Schwerpunkt des Bandes bildet das Verhältnis zwischen den Parteien und den neuen sozialen Bewegungen (Jugend-, Frauen-, Umwelt-, Quartier- und Friedensbewegung wie auch Überfremdungsgegner). Übereinstimmend wird festgestellt, dass die Parteien auf diese neue politische Erscheinung wohl reagieren, sich aber dadurch in ihren Strukturen und Gewohnheiten noch kaum verändern. Für die Zukunft nimmt L. Neidhart an, dass die traditionellen Parteien, die es in der Schweiz gewohnt sind, direktdemokratische Auseinandersetzungen auszuhalten, auch die Anliegen der neuen Bewegungen verarbeiten und absorbieren können. H. Kriesi hält dagegen Umstrukturierungen im Parteiensystem für möglich und eine erneute Öffnung derselben für notwendig, wenn eine weitere Radikalisierung der Bewegungen vermieden werden soll. Eine andersartige Herausforderung signalisiert H. P. Hertig: es gilt, die Probleme der neuen Technologien sachkundig und wirksam in die politische Diskussion einzubringen, doch fehlt es dazu den Parteien an Bereitschaft wie auch an den nötigen Mitteln [2].
Das Spannungsverhältnis zwischen den traditionellen Parteien und den neuen sozialen Bewegungen bildet den Hintergrund für den Erosionsprozess, dem die Wählerschaft der ersteren unterworfen ist. Wie die Ergebnisse kantonaler und kommunaler Wahlen zeigen, profitieren von dieser Entwicklung vor allem neuere Kleinparteien, die aus den erwähnten Bewegungen hervorgegangen sind oder ihnen nahestehen (Nationale Aktion, POCH, Grüne, Landesring) [3]. Im Vorfeld der Nationalratswahlen von 1987 fand die Verlagerung der Wählergunst ihren Widerhall in der öffentlichen Diskussion. Dabei anerkannten die einen, dass Aussenseiter durchaus eine Chance hätten, Alternativen zum Immobilismus der Etablierten zu entwickeln [4], andere wiesen dagegen auf die Uneinheitlichkeit der neuen Oppositionsgruppen hin wie auch auf ihre geringe Fähigkeit zu einer zukunftsgerichteten Gesamtsicht [5].
Die Frage, ob den Parteien in ihrer chronischen Finanzknappheit durch öffentliche Zuwendungen geholfen werden solle, fand durch die Aufdeckung der bereits an anderer Stelle erwähnten Parteispendenaffäre im Kanton Bern neue Aktualität. Hier waren jahrelang Mittel halbstaatlicher Unternehmungen durch anonyme Zahlungen an die drei damaligen Regierungsparteien (SVP, SP und FDP) geflossen, wobei vor allem der kantonale Finanzdirektor, W. Martignoni, die Kanäle geöffnet hatte. Diese heimliche Art der Parteiensubventionierung wurde in der Presse als unzulässig qualifiziert [6].
Die Zusammenarbeit der Regierungsparteien unter sich und mit dem Bundesrat zeitigte keine neuen konkreten Ergebnisse. Sie bewegte sich schwergewichtig um Finanzprobleme, gelangte aber kaum über die Feststellung der Dringlichkeit gewisser legislatorischer Aufgaben hinaus. Die grossen Parteien nutzten damit die Chance, die ihnen nach einer These P. Hablützels aus der Blockierung des Verbändesystems seit der Rezession der siebziger Jahre erwachsen ist, noch wenig. Dass sich nach den harten finanzpolitischen Auseinandersetzungen der ersten Jahreshälfte im Herbst mindestens eine Klimaverbesserung einstellte, brachte SPS-Präsident H. Hubacher mit dem Interesse des «Klubs der Regierungsparteien» in Zusammenhang, auf die Nationalratswahlen von 1987 hin etwas Konstruktives vorweisen zu können [7].
 
[1] C. Longchamp, Direktdemokratische Einrichtungen, Univox Jahresbericht 1987 GfS und FSP, Zürich 1987. 1981 bezeugten 57% der Befragten einer bestimmten Partei ihre Hauptzuneigung, 1986 noch 43 %. Auf die BR-Parteien fielen 1984 49%, 1986 32 % (SP : 17%/9 %, FDP: 14 %/ 10 %, CVP : 11 %/8 %, SVP : 7 %/5 %), auf die kleineren Parteien 1981 3 %, 1986 11 %.
[2] SJPW, 26/1986: Politische Parteien und neue Bewegungen. Vgl. insbes. L. Neidhart, «Funktions- und Organisationsprobleme der schweizerischen Parteien» (S. 21 ff.); H. Kriesi, « Perspektiven neuer Politik: Parteien und neue soziale Bewegungen» (S. 333 ff.); H. P. Hertig, « Bit, Byte, Parteien und die Herausforderung der neuen Technologien» (S. 293 ff.).
[3] Vgl. oben, Teil I, 1 e.
[4] Vgl. O. Reck in BaZ, 30.5.86; Ww, 43, 23.10.86; 51, 18.12.86; ferner C. Longchamp in SGT, 24.5.86.
[5] Vgl. E. Gruner in TA, 5.3.86 und K. Müller in NZZ, 3.5.86.
[6] Presse vom 18.12.86 ; TW, 27.12.86 (Interview mit W. Martignoni). Vgl. oben, Teil I, 1 c (Regierung). Zur Parteienfinanzierung vgl. auch SZ, 22.10.86; SGT, 19.12.86 sowie SPJ, 1984, S. 213 und oben, Teil II, 1 h (Bern).
[7] Vgl. oben, Teil I, 5 (Finanzpolitik) und SPJ, 1985, S. 231 f. P. Hablützel stellte im Rahmen eines Überblicks über die Entwicklung der Gespräche zwischen den BR-Parteien seit 1970 fest, die führende Rolle der Spitzenverbände bei der Bestimmung der Landespolitik (Neokorporatismus) sei durch erhöhte Spannungen in und zwischen den Verbänden sowie durch deren Unfähigkeit, Probleme des Wertwandels zu lösen, in Frage gestellt, so dass die Aufgabe der Konsensfindung vermehrt den Regierungsparteien zufalle (« Regierungsparteiengespräche im schweizerischen Konkordanzsystem», in SJPW, 26/1986, S. 273 ff.). Hubacher: JdG, 10.9.86.