Année politique Suisse 1986 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
Sozialdemokratische Partei
In der vom
Wählerschwund besonders stark betroffenen Sozialdemokratischen Partei (SP) zielten verschiedene Initiativen auf die Gewinnung neuer Perspektiven, die sowohl die gegensätzlichen Parteirichtungen zusammenführen als auch die Herausforderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aufnehmen sollen. Wesentliche Anregungen dazu erhielten sie aus der deutschen Schwesterpartei. So wurde dem Lausanner Parteitag vom Juni das von dieser in Angriff genommene Thema «Arbeit und Umwelt» zur Diskussion unterbreitet. Nachdem bereits im Luganeser Programm von 1982 eine Verbindung von technischem Fortschritt und Okologie postuliert worden war, sollte nun im Blick auf die kommenden eidgenössischen Wahlen eine Konkretisierung dieses Postulats folgen. In den Vorbereitungspapieren, die den Sektionen zugingen, wird die Computer-Technologie als unvermeidbar anerkannt, zu ihrer Humanisierung aber ein Ausbau der Mitbestimmung sowie eine Verteilung der Arbeit auf alle verlangt. Das System der sozialen Sicherheit soll umgebaut werden, einerseits durch Erschliessung neuer Finanzquellen, anderseits durch Entwicklung von Selbsthilfegruppen («kleine Netze»). Für die Agrarpolitik sind ökologisch-kleinbäuerliche Forderungen wegleitend, einschliesslich einer erhöhten Konsumentenbelastung
[16].
Die Diskussion am Parteitag wurde merklich von einer zweiten Initiative belebt : von einer
kritisch-programmatischen Schrift des Ende 1985 aus dem Zentralsekretariat der SPS ausgetretenen Wirtschafts- und Entwicklungspolitikers
Rudolf H. Strahm. In ihr werden einerseits Führung und Organisation der Partei schonungslos analysiert und für eine effiziente Politik als untauglich erklärt, anderseits an André Gorz und Peter Glotz orientierte Perspektiven für eine sozialdemokratische Bewältigung der Zeitprobleme entworfen. Strahm stellt der SP die Aufgabe, eine Aufspaltung der Gesellschaft in einen gut entlöhnten arbeitenden und einen arbeitslosen Teil zu verhindern, was namentlich mit Hilfe einer vom Staat garantierten «Souveränität» des einzelnen in der Gestaltung seiner Arbeitszeit geschehen soll. Um dies zu erwirken, muss die Partei «Themenführerschaft» übernehmen, zum Zentrum für mehrheitsfähige Problemlösungen werden. Dazu benötigt sie neben der zahlenmässig abnehmenden Arbeiterschaft den sozial und ökologisch sensibilisierten Teil der Angestellten, die neuen Mittelschichten. Eine Koalition dieser beiden Gruppen erfordert die Verbindung der sozialen mit den ökologischen Fragen. Um aber wirksam zu werden, bedarf die Partei einer aktiven Kommunalpolitik, intensiver Bildungsarbeit sowie einer strafferen Organisation zur Mobilisierung der Mitglieder und Sympathisanten (z.B. für Referendumsaktionen). Strahms Schrift wurde nicht nur von der direkt betroffenen Parteileitung, sondern namentlich auch vom linken Flügel kritisiert ; hier machte man ihr Verzicht auf radikale Utopien und Verkennung der kapitalistischen Machtstrukturen zum Vorwurf. Dank ihrer Verbindung von Ernsthaftigkeit, Realitätssinn und vereinfachender Verständlichkeit erntete sie ein breites Echo
[17]. Weitgehende Verwandtschaft mit ihr zeigt ein Thesenpapier, das von einer hauptsächlich im Raum Bern-Solothurn-Aargau beheimateten Gruppe auf den Parteitag hin verbreitet wurde. Es postuliert die Entwicklung der SP zur führenden Reformpartei, die den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt in einen gesellschaftlichen umformen will, wobei das Verhältnis zwischen Markt und Plan pragmatisch gestaltet werden soll. Die dazu erforderlichen neuen Wähler werden unter den Angestellten gesucht
[18].
Es entsprach der ökologischen Ausrichtung der Partei, dass sie bereits wenige Wochen nach der Katastrophe von Tschernobyl mit einem eidgenössischen Volksbegehren für den Ausstieg aus der Kernenergie aufwartete; damit konkurrenzierte sie freilich die Ende 1985 vom Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke (NWA) angekündigte Initiative für einen zehnjährigen Kernkraftwerk-Baustopp. Der Lausanner Parteitag stimmte der Lancierung fast einmütig zu und schloss sich ausserdem der Referendumsbewegung gegen die Asylgesetzrevision an, nachdem ein SP-Papier zu Beginn des Jahres unter dem Eindruck der Wahlerfolge der Nationalen Aktion noch eine gewisse Verschärfung der Vollzugspraxis empfohlen hatte
[19]. Einen Schritt in die Richtung der neuen Bewegungen taten die Delegierten auch mit der Aufnahme eines Abschnitts über
Feminismus ins Parteiprogramm sowie mit der Anerkennung des Grundsatzes, dass in den Gremien der SPS der Anteil der Frauen mindestens einen Drittel betragen solle
[20]. Die 1985 in die Lausanner Stadtexekutive gewählte Yvette Jaggi trat als Vizepräsidentin zurück, was namentlich wegen ihrer Bemühungen um die Integration der welschen Parteigenossen in die Landesorganisation bedauert wurde. Eine Neubesetzung erfuhr schliesslich der seit 1984 vakante Posten des leitenden Zentralsekretärs. Über Anstrengungen zur Erhaltung der Parteipresse haben wir an anderer Stelle berichtet
[21].
Die Wahlen im Kanton Bern brachten der SP zwar Wählerverluste, und das durch die Berner Finanzaffäre belastete Verhältnis der Partei zu zweien ihrer Regierungsräte wurde durch die Einleitung der erwähnten Strafuntersuchung nicht erleichtert; der Umschwung in den Mehrheitsverhältnissen der Exekutive bot aber der Sozialdemokratie erstmals wieder seit 1949 die Möglichkeit, in einer überwiegend nichtbürgerlichen Kantonsregierung die Führungsrolle zu übernehmen
[22]. Dagegen kam der Versuch, die Position der SP im Tessin durch eine Wiedervereinigung mit dem
Partito socialista autonomo (PSA) zu verbreitern, nicht zum Ziel. Um die im Spätjahr 1985 aufgetretenen Widerstände zu überwinden, schloss die Landespartei im Mai mit dem PSA ein auf zwei Jahre befristetes Assoziationsabkommen, das ihm einen Beobachterstatus einräumt, allerdings ohne die Zustimmung der regulären Tessiner Kantonalpartei. Diese sistierte vielmehr die Verhandlungen mit dem PSA und erklärte die an einer Fusion festhaltende Arbeitsgemeinschaft für unzulässig, ja die Zugehörigkeit zu derselben mit der Parteimitgliedschaft für unvereinbar. Darauf beschloss die Arbeitsgemeinschaft, bei den kantonalen Wahlen von 1987 eigene Kandidaten aufzustellen und mit dem PSA Listenverbindungen einzugehen
[23]. Die 1982 in Baselstadt von der SP abgespaltene
Demokratischsoziale Partei (DSP) erhielt auf basellandschaftlichem Boden einen Ableger, der an den kantonalen Wahlen von 1987 teilzunehmen beschloss
[24].
[16] Deutsche Anregungen: vgl. TW, 24.5.86. Verhältnis zum Programm von Lugano: P. Vollmer in Rote Revue, 65/1986, Nr. 4, S. 6 f. ; H. Hubacher in SHZ, 25, 19.6.86 ; vgl. auch SPJ, 1982, S. 200, Vorbereitungspapier und Parteitag: Presse vom 21. und 23.6.86; SP-Information, 207, 25.6.86; Rote Revue, 65/1986, Nr. 7/8, S. 17 ff.
[17] R. H. Strahm, Vom Wechseln der Räder am fahrenden Zug. Über die Zukunfts-Chancen einer regierungsfähigen Linken in der Schweiz — Sozialdemokratische Entwürfe für eine Schweiz von morgen, Zürich 1986. Vgl. dazu A. Gorz, Abschied vom Proletariat, Frankfurt a.M. 1980 und P.Glotz, Die Beweglichkeit des Tankers, München 1982 sowie Die Arbeit der Zuspitzung, Berlin 1984. Kritik : Rote Revue, 65/1986, Nr. 7/8, S. 1 ff. ; Nr. 10, S. 1 ff.; ferner Vr, 16.5.86; 11.6.86; 25.6.86; 24.7.86; 4.8.86; vgl. dazu R. H. Strahm in Vr, 7. und 8.8.86; ausserdem NZZ, 12.5.86 ; TA, 21.6.86 ; U. Pfister in Schweizer Monatshefte, 66/1986, S. 605 ff. ; W. Seitz in PZ, 25/26, 2.7.87.
[18] Perspektiven der Sozialdemokratie, Bern 1986; vgl. dazu Rote Revue, 65/1986, Nr. 10, S. 10 ff. (Teilabdruck) und Nr. 12, S. 19 f. sowie 66/1987, Nr. 5 ; ferner NZZ, 28.6.86. Vgl. auch M. Finger / J.-N. Rey, « Le parti socialiste suisse face aux nouvelles valeurs et aux nouveaux enjeux politiques de la société industrialisée avancée », in SJPW, 26/1986, S. 257 ff.
[19] Ausstiegsinitiative: NZZ, 31.5.86; Vr, 13.6.86 ; Presse vom 23.6.86; vgl. oben, Teil I, 6 a (Energie nucléaire). NWA-Initiative: vgl. SPJ, 1985, S. 100. Asylgesetzreferendum: Presse vom 23.6.86; vgl. oben, Teil I, 7 d (Réfugiés). Vollzugspraxis: AT, 7.1.86.
[20] SP-Information, 207, 25.6.86 ; vgl. Vr, 4.2.86 ; TA, 16.6.86 ; Presse vom 23.6.86. Erfüllt war dieses Postulat nur im Parteipräsidium und im Zentralsekretariat.
[21] Vizepräsidentin: L'Hebdo, 23, 5.6.86; LNN, 23.6.86; 24 Heures, 23.6.86; vgl. SPJ, 1985, S. 39; Nachfolgerin wurde NR Heidi Deneys (NE). Zum leitenden Zentralsekretär wählte der Parteivorstand A. Daguet (SP-Information, 204, 5.5.86 ; vgl. SGT, 21.1.86 ; BZ, 5.5.86 sowie SPJ, 1984, S. 215, Anm. 17). Presse : vgl. oben, Teil I, 8 c (Presse); ferner TW, 16, 23. und 30.8. sowie 6. und 13.9.86.
[22] Zu den Wahlen vgl. oben, Teil I, 1e (Kantonale Wahlen, Bern), zur Finanzaffäre Teil I, 1c (Regierung). Verhältnis zu den Regierungsräten: Berner Presse vom 13.6.86; vgl. auch SPJ, 1985, S. 234. Neue Mehrheitsverhältnisse: TA, 16.6.86; TW, 8.8.86.
[23] Abkommen mit PSA: SP-Information, 204, 5.5.86; vgl. Presse vom 27.1.86 und vom 5.5.86. Tessiner SP: CdT, 24.3.86; 11.12.86. Arbeitsgemeinschaft: CdT, 22.12.86. Vgl. dazu SPJ, 1985, S. 234.
[24] Gründung einer Sektion Pratteln: BaZ, 29.8.86. Wahlbeteiligung: BaZ, 18.12.86. Vgl. dazu SPJ, 1982, S. 200 sowie G. Schmid, «Demokratisch-soziale Partei (DSP) Basel-Stadt — Ablauf und Bedeutung einer Parteispaltung», in SJPW, 26/1986, S. 89 ff.
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