Année politique Suisse 1986 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Die Rückfrage des Bundesrates an das Parlament, ob die Arbeiten an einer Totalrevision der Bundesverfassung fortgesetzt werden sollten, führte nicht zum Abbruch des umstrittenen Unternehmens. Eine Diskussion am Parteitag der FDP im April, die eine überwiegend negative Haltung zum Ausdruck brachte, wirkte zwar vorerst eher entmutigend. Die vorberatende Kommission des Ständerates erwog die Möglichkeit einer rein formalen Revision und liess sich vom EJPD einen entsprechenden Zusatzbericht vorlegen, verwarf dann aber diesen Ausweg. Sie beantragte dem Rat, den Revisionsauftrag zu erteilen, ihn aber zugleich zu präzisieren: Der von der Regierung auszuarbeitende Entwurf sollte «
das geltende geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht nachführen, es verständlich darstellen, systematisch ordnen sowie Dichte und Sprache vereinheitlichen ». Konkrete Weisungen, wie sie von den Staatsrechtslehrern Jagmetti (fdp, ZH) und Aubert (lp, NE) gewünscht wurden, lehnte die Kommission jedoch ab, um dem Bundesrat die Freiheit, mindestens in Form von Varianten Neuerungen vorzuschlagen, nicht zu nehmen. Noch im Dezember gab die Ständekammer diesem Vorschlag mit 28 :6 Stimmen ihren Segen — gewissermassen als Geschenk zum 50. Geburtstag der Vorsteherin des EJPD, die sich nachdrücklich für den Auftrag eingesetzt hatte
[13]. Zu diesem bescheidenen Neuanfang trugen befürwortende Stellungnahmen bürgerlicher Staatsrechtler und Politiker bei, die nicht als Systemveränderer verdächtigt werden konnten, ausserdem das sich.verbreitende Gefühl, nach zwanzigjähriger Vorarbeit nicht einfach kapitulieren zu können
[14].
In der Reihe der Totalrevisionen von Kantonsverfassungen kam die
solothurnische mit der Sanktion durch den Souverän zum Abschluss. Als Kompromiss zwischen den drei Hauptparteien (FDP, CVP, SP) enthält sie keine tiefgreifenden Neuerungen. In Teilabstimmungen wurde das Stimmrecht der Achtzehnjährigen verworfen, dagegen ein Antragsrecht von 100 Stimmberechtigten an das Parlament (Volksmotion) aufgenommen
[15].
[13] FDP-Parteitag: Presse vom 19. und 21.4.86. Entmutigung: vgl. Presse vom 22.4.86. StR-Kommission: Presse vom 14.5.86 ; NZZ, 22.8.86 ; Presse vom 4.11.86. StR: Amtl. Bull. StR, 1986, S. 783 ff.; vgl. Interview mit E. Kopp in SZ, 17.12.86.
[14] Befürwortende Stellungnahmen: K. Eichenberger in NZZ, 12.5.86; U. Pfister (Präsident der Arbeitsgruppe Totalrevision der FDP) in NZZ, 23.5.86 ; J. Binder (Präsident der StR-Kommission) in SZ, 17.7.86 ; vgl. auch Voten von J.-F. Aubert und R. Jagmetti (Amtl. Bull. StR, 1986, S. 787 ff.). Vgl. fernerA T, 17.12.86. Eine auch materielle Totalrevision befürwortete ferner alt BR H. P. Tschudi in SMUV-Zeitung, 5, 29.1.86. Ablehnende Stellungnahmen: L. Neidhart in NZZ, 23.5.86; O. Fischer in SZ, 13.6.86; Arbeitsgruppe für eine freiheitliche Bundesverfassung, Totalrevision der Bundesverfassung in der Sackgasse, Bern 1986 (vgl. SPJ, 1979, S. 12). Siehe auch H. Walker, Die Diskussion über die Totalrevision der Bundesverfassung von 1964 bis Mitte 1986, Freiburg 1986.
[15] Vgl. NZZ, 31.1.86 sowie unten, Teil II, 1a (Solothurn); ferner SPJ, 1981, S. 11.
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