Année politique Suisse 1986 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Öffentliche Ordnung
Die öffentliche Ordnung in der Schweiz wurde 1986 nicht — wie in einigen andern Ländern (insbesondere Frankreich) — durch Terroranschläge gestört. Trotzdem zweifelten besorgte Parlamentarier am Genügen der Mittel, welche den Behörden zur Abwehr von Terrorakten zur Verfügung stehen. Sie regten deshalb insbesondere auch international koordinierte Massnahmen an. Derartige Schritte wurden beispielsweise von den zuständigen Ministern der 21 Mitgliedsstaaten des Europarates mit der Bildung einer internationalen Expertenkommission unternommen [10].
Im Inland erregte vor allem die gerichtliche Bewältigung der Anschlagserie des Jahres 1984 in Winterthur Aufsehen. Nachdem im Vorjahr die Haftbedingungen beanstandet worden waren, gerieten nun auch die Ermittlungsmethoden unter Beschuss. Soweit die Vorwürfe einen Beamten der Bundesanwaltschaft betrafen, wies der Bundesrat sie als unhaltbare Verdächtigungen zurück. Das Zürcher Obergericht verurteilte in einem Indizienprozess einen der beiden Hauptangeklagten, dem unter anderem die Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag gegen das Haus des damaligen Bundesrats Friedrich zur Last gelegt wurde, zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren. Das Gericht hatte bei seiner Urteilsfindung auf Zeugenaussagen von Polizisten verzichtet, die aus Tarnungsgründen ihre Identität nicht preisgeben durften und ihre Angaben von einem Chefbeamten der Zürcher Polizei deponieren liessen [11].
Zur Verwendung von getarnten Polizisten (sogenannte V-Leute oder Spitzel) zwecks Überwachung von Gruppen und Personenkreisen, die verdächtigt werden, kriminelle Taten zu begehen, äusserte sich das Bundesgericht. Gemäss seinem Urteil ist deren Einsatz auch beim Fehlen von expliziten gesetzlichen Grundlagen zulässig. Allerdings dürfen sie keinesfalls zu Kriminalität anstiften. Genau dies warf nun aber die «Wochen-Zeitung» zwei Beamten der Stadtpolizei Zürich vor, die sich zu Beginn der achtziger Jahre in trotzkistischen resp. anarchistischen Gruppierungen betätigt hatten. Die beiden hätten nicht nur zu Gewalttaten aufgerufen, sondern sich auch aktiv an deren Ausführung beteiligt. Das Polizeikommando der Stadt Zürich stritt jegliche Mitwisserschaft um die behaupteten Aktivitäten ab und eröffnete eine interne Disziplinaruntersuchung [12].
Die zahlreichen politischen Demonstrationen verliefen 1986 fast ausschliesslich in sehr gesittetem Rahmen. Rund 20-30 000 Personen vereinigten sich vor dem Kernkraftwerk Gösgen (SO), um nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl einen Ausstieg aus der Atomenergie zu fordern. Dieses Thema veranlasste auch in den meisten grösseren Städten Tausende dazu, auf die Strasse zu gehen. Die landesweit zweitgrösste Demonstration mit etwa 10 000 Beteiligten fand in Basel nach der Chemie-Katastrophe bei Sandoz in Schweizerhalle (BL) statt. Zahlreich waren weiterhin die Kundgebungen gegen eine restriktive Flüchtlingspolitik und gegen Fremdenfeindlichkeit. Mehrere kleinere Demonstrationen richteten sich gegen den Autoverkehr in den Städten oder bekundeten ihre Solidarität mit der sandinistischen Regierung in Nicaragua. Schliesslich setzten Exil-Kurden ihre Protestaktionen gegen die Politik der türkischen Regierung in ihrer Heimat namentlich mit kurzen Besetzungsaktionen fort. Betroffen waren in diesem Jahr vor allem Büros der Medien [13]. Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts gehört das Demonstrationsrecht in der Schweiz nicht zu den ungeschriebenen Verfassungsrechten und darf deshalb einer Bewilligungspflicht unterworfen werden. Gleichzeitig forderten die Bundesrichter die Behörden auf, diese Bewilligungen sehr liberal zu handhaben und Demonstrationen, bei denen nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit mit Ausschreitungen gerechnet werden müsse, zu erlauben [14].
Mit der Umstellung des Personenfahndungsregisters des Bundesamtes für Polizeiwesen auf elektronische Datenverarbeitung (RIPOL) konnte der Fahndungserfolg um ca. 50% gesteigert werden. Dies hielt jedoch kritische Juristen und Politiker der Linken nicht davon ab, gegen dessen definitive Inbetriebnahme auf den 1.1.1986 zu protestieren. Solange keine gesetzlichen Grundlagen bestehen, ist ihrer Ansicht nach eine ausreichende Gewähr für die Einhaltung von Datenschutzgrundsätzen und dabei insbesondere eine Garantie gegen die Verknüpfung mit anderen Datenbanken nicht gegeben. Für den Bundesrat reichen demgegenüber die auf Verordnungsstufe festgehaltenen Bestimmungen einstweilen aus; er beauftragte allerdings das EJPD mit der Ausarbeitung von bereichsspezifischen Vorschriften auf Gesetzesstufe [15].
 
[10] Interpellationen G. Cotti (cvp, TI) und E. Cincera (fdp, ZH): Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1006 f. und 2074 f. Ministertagung: BaZ, 6.11.86. Zu einem parlamentarischen Vorstoss gegen den Einsatz der Armee im Innern siehe unten, Teil I, 3 (Défense nationale et la société).
[11] Presse vom 16.9.86; WoZ, 38, 19.9.86. Zur Kritik vgl. auch E. Schmid, Verhör und Tod in Winterthur, Zürich 1986; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2098 f. (Stellungnahme des BR). Siehe ebenfalls SPJ, 1985, S. 16.
[12] Bundesgericht: BaZ, 13.5.86; 11.10.86. Der Entscheid des Bundesgerichts wurde mit einer Menschenrechtsbeschwerde an die Europäische Menschenrechtskommission weitergezogen (NZZ, 11.10.86). Zürich : WoZ, 42, 17.10.86 ; 47, 21.11. 86 ; 48, 28.11.86 ; TA, 18.10.86. Der Aargauer Regierungsrat akzeptierte ein rechtliches Gutachten, wonach fest installierte Abhöranlagen in einem Untersuchungsgefängnis illegal sind. Da die Anlage noch nicht in Betrieb genommen war, begnügte er sich mit disziplinarischen Verweisen gegen die für den Einbau Verantwortlichen. Linke und grüne Politiker reichten allerdings Strafanzeigen ein (AT, 15.1.86; 25.9.86; Vr, 15.1.86; NZZ, 20.10.86; vgl. SPJ, 1985, S. 16).
[13] Gösgen: Presse vom 23.6.86. AKW: NZZ, 7.5.86; BaZ, 9.5.86; CdT, 16.5.86; JdG, 2.6.86; Vr, 16.6.86; TW, 1.9.86. Sandoz: BaZ, 4.11.86; 10.11.86; 15.12.86. Asyl: TW, 3.3.86; Suisse, 26.3.86; JdG, 24.5.86; Presse vom 29.9.86. Verkehr: Suisse, 5.3.86; JdG, 4.9.86; 10.12.86; NZZ, 21.4.86. Nicaragua: NZZ, 30.6.86; 11.8.86; Suisse, 2.11.86. Kurden: Vr, 4.2.86; Suisse, 5.2.86; Bund, 22.8.86; 22.10.86; JdG, 12.9.86.
[14] BaZ, 26.3.86.
[15] Inbetriebnahme: SPJ, 1985, S. 16; Ww, 7, 13.2.86. Kritik: SP-Information, 197, 27.1.86; Plädoyer, 4/1986, Nr. 2, S. 6 ff.; TW, 19.6.86; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1510 f. (Stellungnahme des BR).