Année politique Suisse 1986 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Parlament
In Erfüllung eines Postulats Binder (cvp, AG) präsentierte der Bundesrat seine Überlegungen und Vorschläge zum Ausbau der Mitwirkung des Parlaments bei der politischen Planung. Grundsätzlich sieht er vier mögliche Modelle. Bei den ersten beiden würde das Parlament über Planungsentwürfe der Regierung entweder global (Genehmigung) oder mit zusätzlichen Detailabänderungen (Entscheid) rechtsverbindlich beschliessen. Im dritten Modell, das etwa dem heutigen Zustand entspricht, diskutiert das Parlament die Planung der Regierung (Kenntnisnahme), und im vierten Modell nimmt es dazu mit einer politischen, aber nicht rechtsverbindlichen Erklärung Stellung (parlamentarische Planungserklärung). Der Bundesrat lehnt in seinem Bericht die Modelle eins und zwei ab, da sie eine flexible Planung verunmöglichen würden. Die Variante mit der Abgabe einer expliziten politischen Stellungnahme durch das Parlament wird hingegen positiv eingeschätzt, kann sie doch der Regierung das Mass der Unterstützung anzeigen, das sie bei der Verwirklichung ihrer Vorhaben erwarten darf. Die Aufgabe des Parlaments bei der politischen Planung sieht der Bundesrat in der Diskussion von Grundsätzen sowie dem Einbringen von neuen Anregungen und — in einer späteren Phase — in der konkreten gesetzgeberischen Realisierung. Für die Gewährleistung der sachlichen Widerspruchsfreiheit und die Abwägung von Zielen und Mitteln will er jedoch weiterhin die Hauptverantwortung selber tragen [15].
Die kleine Kammer hiess die meisten Vorschläge ihres erweiterten Büros zur Revision des eigenen Geschäftsreglements gut. Von Bedeutung ist insbesondere die neue Bestimmung, wonach zu Bereichen, in welchen die Rechtsetzungskompetenz ausschliesslich dem Bundesrat zukommt oder an diesen delegiert ist, keine Motionen mehr zulässig sind. Als Ersatz für diese sogenannt unechten Motionen kreierte der Ständerat das Instrument der «Empfehlung». Die bisher oft befolgte Praxis, derartige Vorstösse in Postulate umzuwandeln, erachtet er als nicht sinnvoll, da mit Motionen ja Massnahmen und nicht Berichte verlangt werden. Die Empfehlung weist den Charakter einer politischen Willenserklärung des Rates auf und lädt den Bundesrat zu entsprechendem Handeln ein. Der Ständerat wird in Zukunft ausserdem die Möglichkeit haben, zu wichtigen Ereignissen und Problemen in Form einer «Erklärung» eine Resolution zu fassen. Neu geregelt wurde im weitern die Beziehung zu den Vertretern der Medien. An der Vertraulichkeit von Kommissionsverhandlungen will der Rat ausdrücklich festhalten. Speziell beauftragte Kommissionssprecher dürfen zwar über Beschlüsse und Stimmenverhältnisse, nicht aber über die Stellungnahmen einzelner Mitglieder informieren. Ausserdem wurden die Rechte und Pflichten der akkreditierten Journalisten namentlich in bezug auf die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente und Gespräche strenger gefasst als bis anhin [16].
Nachdem der Ständerat sein Instrumentarium erweitert und zum Teil neu definiert hat, strebt er eine Vereinheitlichung für beide Kammern an. Er beschloss zu diesem Zweck die Aufnahme der bisher nur in den Ratsreglementen festgehaltenen und überdies nicht übereinstimmenden Definitionen der parlamentarischen Vorstösse in das Geschäftsverkehrsgesetz [17].
Trotz der in den letzten Jahren vorgenommenen Reformen leidet insbesondere der Nationalrat unverändert unter Zeitmangel. Nicht zuletzt die Umweltkatastrophen im Inund Ausland sowie die bevorstehenden eidgenössischen Wahlen führten 1986 zu einer Rekordzahl von neu eingereichten parlamentarischen Vorstössen. Organisierte Eintretensdebatten mit rigoroser Aufteilung der Redezeit — allein in der Frühjahrssession wurden deren sechs durchgeführt — halfen mit, die Anzahl der noch nicht abschliessend behandelten Bundesratsvorlagen einigermassen konstant zu halten [18]. Wenig beliebt, namentlich bei bürgerlichen Abgeordneten, ist die Regelung, dass auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Nationalrats eine Ausserordentliche Sondersession abgehalten werden muss. Mit einem Postulat beauftragte der Nationalrat sein Büro, Vorschläge für die Revision der generell als veraltet empfundenen Verfassungsbestimmungen (Art. 86 BV) über die Einberufung des Parlaments auszuarbeiten [19].
Auf Antrag des Büros des Nationalrats verabschiedeten beide Kammern einen Bundesbeschluss, der die bisher individuelle Vertretung der Schweiz bei der Interparlamentarischen Union (IPU) zu einer nationalen Gruppe aufwertet. Bei der IPU, die ihren Sitz in Genf hat, handelt es sich um ein Kontaktforum für Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus gegenwärtig 104 Staaten, das sich die Völkerverständigung und die Förderung des Friedens zum obersten Ziel gesetzt hat [20].
 
[15] BBl, 1986, II, S. 1 ff.; Amtl. Bull. StR, 1982, S. 161 ff. (Postulat Binder). Mit dem Instrument der sogenannten Richtlinienmotionen kann das Parlament bereits heute gewisse politische Planungsakzente setzen. Vgl. auch den Bericht über ein Seminar zum Thema «Regierungsprogramm und Finanzplan» in Verwaltung+ Organisation, 40/ 1986, S. 261 und 338. Für den neugewählten BR Koller müsste das Parlament vermehrt auch die Funktion eines Vermittlers zwischen Regierung und Souverän wahrnehmen (A. Koller, «Die eidgenössischen Räte zwischen Volk und Regierung», in Schweizer Monatshefte, 66/1986, S. 813 ff.). Vgl. auch B. Knapp, «Les rôles du pouvoir législatif et exécutif dans la procédure législative en Suisse », in Pouvoir exécutif et pouvoir législatif Zurich 1986, S. 3 ff. (Publications de l'Institut suisse de droit comparé, no 5). Zum Einfluss von Expertenkommissionen auf den Gesetzgebungsprozess siehe A.-V. Poitry, «Les commissions extra-parlementaires comme élément du processus législatif», in Schweiz. Zeitschrift für Soziologie, 12/1986, S. 397 ff.
[16] BBl, 1986, II, S. 1289 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 493 ff. Im Nationalrat reichte demgegenüber Nebiker (svp, BL) eine Motion ein, welche auch für sog. unechte Motionen einen rechtlich verbindlichen Charakter einführen will (Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 84). Vgl. auch SPJ, 1985, S. 25. Zum Antragsrecht während Parlamentsdebatten siehe A. Santschy, «Le droit d'amendement au sein des deux conseils de l'Assemblée fédérale suisse », in Zeitschrift für schweiz. Recht, NF, 105/1986, I, S. 503 ff. Die bisher dem Ratspräsidenten zukommende Entscheidkompetenz über die direkte Fernsehübertragung von Ratsdebatten soll gemäss einer von NR Borel (sp, NE) eingereichten parl. Initiative der SRG zugesprochen werden (Verhandl. B.vers., 1986, V, S, 19).
[17] BBl, 1986, II, S. 1381 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 500 ff. Der Bundesrat begrüsste die vom StR akzeptierte Neuregelung (BBl, 1986, III, S. 196 ff.).
[18] Amtl. Bull. NR, 1986,S. 1, 514 f. und 996 f. ; vgl. auch LNN, 4.6.86 (J. Stamm) ; SPJ, 1985, S. 23. NR Ott (sp, BL) fordert mit einer parl. Initiative die Fortsetzung der Parlamentsreform, wobei besonders Gewicht auf die Verbesserung der Infrastruktur und eine rationellere Gestaltung der Arbeitsabläufe gelegt werden soll (Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 21). Zur Charakterisierung der Mitglieder der Volkskammer der laufenden Legislaturperiode siehe Politik und Wirtschaft, 1/1986, Nr. 9, S. 12 f.
[19] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1479 f. und 2039 f.
[20] BBl, 1986, II, S. 637 ff.; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1244 f. und 2079; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 835 f. und 842.