Année politique Suisse 1986 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Volksrechte
Die Nutzung der Volksrechte auf eidgenössischer Ebene war 1986 mit sieben eingereichten Volksinitiativen (1985: 4) überdurchschnittlich hoch. Nur gerade 1974 wurden noch mehr Vorstösse eingereicht (8). Je ein Begehren betraf die Landesverteidigung und die Krankenversicherung, gleich deren vier hatten die Verkehrspolitik zum Thema. Da andererseits zwei Initiativen zurückgezogen wurden und drei zur Abstimmung kamen, erhöhte sich die Zahl der Ende 1986 hängigen Initiativen um eine auf 18. Neu lanciert wurden 6 (1985: 8) Volksbegehren, davon zwei zum Thema Kernenergie. Insgesamt wurden am Jahresende noch zu neun Volksinitiativen Unterschriften gesammelt. Gegen zwei vom Parlament beschlossene Gesetzesänderungen ergriffen Opponenten das Referendum (Asyl- und Ausländergesetzrevision) [24].
Die Einführung von Karenzfristen, welche verhindern sollen, dass in der Volksabstimmung unterlegene Initianten ihr Anliegen in analoger oder ähnlicher Form gleich nochmals mit einem neuen Volksbegehren anmelden, lehnte der Bundesrat als Beschneidung der Volksrechte ab. Zu berücksichtigen ist seiner Ansicht nach auch, dass ohnehin in der Regel sechs Jahre von der Lancierung bis zur Abstimmung über eine Initiative vergehen. Der Ständerat überwies seinerseits eine Motion Schoch (fdp, AR) zugunsten der Einführung von Karenzfristen lediglich als Postulat; in der grossen Kammer ist ein identischer Vorstoss der FDP-Fraktion noch hängig [25]. Die vom Nationalrat 1985 gutgeheissene Lösung bezüglich der Aufteilung der Zeit, welche Regierung und Parlament zur Behandlung von Volksinitiativen zur Verfügung steht, fand im Berichtsjahr auch die Zustimmung des Ständerats. Die beiden Instanzen müssen sich in Zukunft in die Behandlungsfrist von vier Jahren (resp. maximal fünf bei Vorlage eines direkten oder indirekten Gegenvorschlags) hälftig teilen [26]
Der Ständerat kam auf seinen Nichteintretensbeschluss aus dem Vorjahr zu der vom Bundesrat vorgeschlagenen Neuregelung des Verfahrens bei Volksabstimmungen über Initiative und Gegenvorschlag zurück. In der Frühjahrssession entschied er sich mit 23 : 17 Stimmen für Eintreten, beauftragte aber seine Kommission mit der Ausarbeitung einer Vorlage auf Verfassungsstufe. Die Begründung dafür war nicht staatsrechtlicher, sondern staatspolitischer Art. Es handelt sich nach Ansicht der Ratsmehrheit um eine derart grundlegende Änderung, dass sich Volk und Stände obligatorisch dazu äussern sollen. Den daraufhin in der Herbstsession unterbreiteten Vorschlag für die Aufnahme eines neuen Art. 121 bis in die Bundesverfassung hiess der Rat mit knappem Mehr (22 : 18) gut; er fand anschliessend auch die Zustimmung der grossen Kammer. Gemäss dem neuen Verfahren wird — die Zustimmung des Souveräns vorbehalten — ein gleichzeitiges Ja zu Initiative und Gegenvorschlag erlaubt sein, wobei eine Stichfrage Aufschluss über die Präferenz ergibt. Die ursprünglich vorgesehene Prozentrechnung in Fällen von divergierendem Volks- und Ständemehr bei der Stichfrage ist hingegen fallengelassen worden. Tritt eine derartige Situation ein, gelten beide Vorlagen als abgelehnt [27].
Nachdem sich 1985 das EJPD in einer «Modell-Studie» für eine Totalrevision der Bundesverfassung zugunsten der Schaffung der Gesetzesinitiative auf Bundesebene ausgesprochen hatte, deponierten die Nationalräte Jaeger (ldu, SG) und Ruf (na, BE) entsprechende Vorstösse in Form von parlamentarischen Initiativen. Obwohl in der vorberatenden Kommission Befürworter geltend machten, dass damit ein Beitrag zur Entlastung der Verfassung geleistet werden könnte, obsiegten die Gegner mit einer Stimme Mehrheit [28].
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H.H.
 
[24] Verhandl. B. vers., 1985, V, S. 97 f. und 1986, V, S. 123 f. ; wf, Initiativen + Referenden – Stand 1. Januar 1987, Zürich 1987 ; TA, 5.1.87 ;SPJ, 1985, S. 24. Bei einer eingereichten Initiative war das Zustandekommen noch nicht amtlich bestätigt («Abschaffung der Tierversuche »). Zu den einzelnen Initiativen siehe die entsprechenden Sachkapitel. Zum Gebrauch der Volksrechte in den Kantonen siehe unten, Teil II (Allgemeine Gesichtspunkte).
[25] BR : Amtl. Bull. NR, 1986, S. 470 f. Motionen : Amtl. Bull. StR, 1986, S. 434 f. ; Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 34.
[26] Amtl. Bull. StR, 1986, S. 433 f. und 436 ; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1033 ; AS, 1986, S. 1712 f. Siehe auch SPJ, 1985, S. 24.
[27] SPJ, 1985, S. 24 f.; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 71 ff., 520 ff. und 841; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1850 f. und 2079; BBl, 1987, I, S. 16 f. Siehe auch U. Pfister, «Das doppelte Ja – eine fällige Reform», in Schweizer Monatshefte, 66/1986, S. 895 ff.
[28] Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 18 f. ; BaZ, 20.11.86. Vgl. auch SZ, 2.3.86, SPJ, 1985, S. 12 (Modell-Studie) sowie oben, Teil I, 1a (Totalrevision des Bundesverfassung). Die Aktualität des Vorschlags illustrierte die Lancierung einer Volksinitiative für einen Verfassungsartikel über Hundekotentfernung auf öffentlichem Grund (BBl, 1986, II, S. 710 ff.; NZZ, 15.7.86; TA, 12.8.86; Ww, 34, 21.8.86).