Année politique Suisse 1986 : Allgemeine Chronik / Öffentliche Finanzen
 
Finanzpolitik
An den grundlegenden Positionen zur eidgenössischen Finanzpolitik änderte sich wenig, deshalb wurden in der Frage der Gestaltung der Bundesfinanzordnung für die Zeit nach 1994 kaum Fortschritte erzielt. Namentlich in Unternehmer- und Freisinnskreisen drang man darauf, den Bundeshaushalt primär durch Reduktion der Ausgaben zu sanieren und durch Steuerreduktionen zu vermeiden, dass eine konjunkturell bedingte Zunahme der Staatseinkünfte Anlass zu zusätzlichen Staatsleistungen gebe; die Staatsquote (Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandprodukt) sollte im Interesse des wirtschaftlichen Wachstums vielmehr stabilisiert oder sogar wieder gesenkt werden. Umgekehrt wandte man sich auf linker Seite gegen eine Einschränkung des staatlichen Handlungsspielraums und gegen Spar- und Steuerabbaumassnahmen, die eine einseitige Belastung der wirtschaftlich schwächeren Schichten zur Folge hätten [1].
Der Chef des EFD, O. Stich, nahm an den periodischen «Von-Wattenwyl-Gesprächen» im Februar mit den Bundesratsparteien die Diskussion über die künftige Finanzordnung auf. Dabei betonte er die Notwendigkeit einer definitiven Verankerung der beiden Haupteinnahmequellen — Warenumsatzsteuer (WUST) und direkte Bundessteuer (DBST) — in der Verfassung und einer Behebung der strukturellen Mängel verschiedener Bundeseinkünfte. Er verwies auf den Umstand, dass Zölle und andere Abgaben, die nicht an Geldwerte, sondern an Mengen oder Gewichte gebunden sind, hinter dem Wirtschaftswachstum zurückbleiben. Die dadurch wie auch durch die Erfüllung verschiedener Steuerentlastungspostulate bedingten Mindereinnahmen einerseits und neue Anforderungen an den Bund (für Unterricht und Forschung, Krankenversicherung, Landesverteidigung, öffentlichen Verkehr und Umweltschutz) anderseits könnten in den neunziger Jahren wieder zu Milliardendefiziten führen. Ohne sich zu einzelnen Massnahmen zu äussern, wünschten die Regierungsparteien vom Bundesrat konkrete Vorschläge. Die eingeleitete Konsenssuche erlitt aber einen Rückschlag, als die Landesregierung wenige Tage später die Öffentlichkeit mit erhöhten Brenn- und Treibstoffbelastungen überraschte, von denen im Gespräch mit den Parteien nicht die Rede gewesen war. Vor allem freisinnige Stimmen warfen dem Bundesrat Konzeptlosigkeit vor. Das finanzpolitische Klima verschlechterte sich weiter, als der Ständerat in der Märzsession verschiedene Vorschläge des Bundesrates zur Steuergesetzgebung zurückwies [2].
FDP und CVP nahmen im Sommer und Herbst Standortbestimmungen vor. Beide verlangten eine Stabilisierung der Staatsquote, die einerseits durch eine dauernde Überprüfung der Bundesaufgaben und entsprechende Sparmassnahmen (Subventionskürzungen), anderseits durch Steuerermässigungen — namentlich Entlastung der Familien bei der DBST, Aufhebung der «Taxe occulte» (Investitionsgüterbelastung) bei der WUST und Erleichterungen für Bankgeschäfte bei den Stempelabgaben —erreicht werden sollte. Die Stellungnahme der FDP war deutlich von der «Weniger Staat»-Parole geprägt: sie lehnte jede unbefristete Bundesfinanzordnung ab und tendierte auf einen Steuerabbau, indem sie nur bei der WUST einen Ausgleich von Ausfällen zugestehen wollte. Das CVP-Papier sprach sich dagegen für die Aufhebung der zeitlichen Begrenzung der beiden Hauptsteuern aus — freilich unter Beibehaltung verfassungsmässiger Höchstsätze — und enthielt bestimmte Vorschläge für die Kompensation von Steuereinbussen : bei der DBST sei die Entlastung der Familien durch einen höheren Tarif für Ledige auszugleichen und bei der WUST die Eliminierung der Taxe occulte vor allem durch Einbeziehung aller Energieträger. Im Unterschied zur FDP gedachte die CVP auch keine zusätzliche Verschuldung mehr in Kauf zu nehmen [3].
Die Regierung und ihr Finanzminister beeilten sich angesichts der getrübten finanzpolitischen Atmosphäre nicht mit der Konkretisierung eines Gesamtkonzepts. Hinweise Bundesrat Stichs, wie die drohende Haushaltverschlechterung vermieden werden könnte — durch Reduktion der Kantonsanteile an der DBST oder durch Kürzung der Militärausgaben —, hatten die bürgerlichen Kritiker nicht günstiger gestimmt. Im September fanden dann die Gespräche mit den Regierungsparteien wieder in einem freundlicheren Klima statt; dieses vermochte aber die sachlichen Differenzen kaum abzubauen [4]. In seinen Haushaltperspektiven für 1988-1990 unterliess es der Bundesrat nicht, erneut zu betonen, dass neben Steuererleichterungen auch zusätzliche Einkünfte vorgesehen werden müssten [5].
Der Bericht über die rollende Finanzplanung des Bundes, der jeweils zusammen mit dem Voranschlag ausgearbeitet wird und die drei anschliessenden Jahre umfasst, stand im Zeichen der günstigen Konjunkturlage. Hatte man im Vorjahr nur für 1986 einen positiven Rechnungsabschluss vorausgesagt, so prognostizierte der Bundesrat im Herbst nun auch für 1987 und 1988 noch schwarze Zahlen und erst für die beiden folgenden Jahre wieder Defizite von 740 (statt 1080) bzw. 580 Mio Fr. Die geringe Teuerungsrate und der über Erwarten starke Einnahmenfluss im Berichtsjahr gaben zu diesen optimistischen Schätzungen Anlass, obwohl man nicht allein für die Einkünfte, sondern auch für die Ausgaben höhere Werte annahm als ein Jahr zuvor. Noch nicht abgeschlossene Entscheidverfahren über Reduktion oder Erhöhung von Einnahmen waren dabei nicht berücksichtigt. Als Planungsziel nannte der Bericht eine Stabilisierung der Staatsquote: die Bundesausgaben sollten sich um 10% des Bruttoinlandprodukts bewegen. Da aber nach der Prognose die Ausgaben mit durchschnittlich 4,7% pro Jahr etwas stärker anwachsen als die Gesamtwirtschaft, die Einnahmen mit 4,1 % dagegen schwächer, erscheint das Haushaltgleichgewicht auf weitere Sicht immer noch gefährdet. Unter den einnahmenmindernden Faktoren nennt der Bericht hauptsächlich den institutionalisierten Ausgleich der kalten Progression sowie die Gewährung von Abzügen für die Beiträge an die berufliche Vorsorge und für die Einlagen in anerkannte Vorsorgeformen der dritten Säule bei der DBST [6].
 
[1] Zu den finanzpolitischen Positionen vgl. SPJ, 1985, S. 80. Ende 1994 fällt die Kompetenz des Bundes zur Erhebung einer Warenumsatzsteuer und einer direkten Bundessteuer erneut dahin (Art. 41 ter Abs. 1 BV); vgl. SPJ, 1981, S. 73 ff. Unternehmer und Freisinn : vgl. G. Winterberger in NZZ, 24.1.86 ; NZZ, 8.3.86 ; H. Letsch in Ww, 12, 20.3.86 ; über eine Publikation W. Wittmanns, die eine « marktwirtschaftliche Finanzierung des Staates » postuliert (Der Steuerstaat, München 1986), siehe oben, Teil I, 1a (Entwürfe). Linke: vgl. B. Kappeler in TW, 28.6.86. Zu einer früheren Auseinandersetzung über die Bundesfinanzordnung vgl. A. Grossen, Bürger, Parlament und Steuern. Fallstudie über die Willensbildung von Parlament und Stimmbürgern beim Finanzpaket 1976/77, Bern 1986.
[2] Von-Wattenwyl-Gespräche: Presse vom 19.2.86; vgl. dazu auch P. Graf / J.-N. Rey (Hg.), Otto Stich und die Kunst des Möglichen, Bern 1987, S. 114 ff. (Referat Stichs vom 24.2.86); ferner Vr, 24.4.86 (über Stichs Referat vom 14.4.86 vor den Delegierten des SGB). Brenn- und Treibstoffbelastungen : siehe unten (Einnahmenordnung). Konzeptlosigkeit: H. Allenspach in SAZ, 10, 6.3.86; NZZ, 19.4.86; 10.5.86; Ständerat: siehe unten (Einnahmenordnung, Steuerharmonisierung).
[3] Finanz- und steuerpolitische Standortbestimmung der FDP-Fraktion : Politische Rundschau, 66/ 1987, H. 1, S. 23 ff. Presse vom 14.6.86; vgl. auch H. Letsch in Der Freisinn, 1986, Nr. 6 sowie Ww, 25, 19.6.86. Thesen zur Finanzpolitik und Plädoyer für eine gerechtere Familienbesteuerung der CVP: Presse vom 5.9.86. Beide Papiere befürworteten auch eine konsequente Anwendung des Verursacherprinzips, insbesondere im Umweltschutz. Der Präsident der SVP, A. Ogi, äusserte sich ähnlich wie die FDP-Fraktion (Interview in BZ, 12.4.86). Einen Überblick über die verschiedenen Reformvorschläge gibt SGT, 16.5.86.
[4] Zur abwartenden Haltung BR Stichs vgl. SZ, 11.6.86; TA, 19.6.86. Hinweise Stichs: Interviews in BZ, 23.4.86 (Kantonsanteile) und SZ, 29.4.86 (Militärausgaben) ; vgl. dazu NZZ, 10.5.86. Auch neue Anregungen des BR anlässlich der Von-Wattenwyl-Gespräche vom 20.5. — einerseits Angleichung von weiteren Fiskalzöllen an die Kaufkraft, Erhöhung der Tabak- und Alkoholbelastung, Übergang von Gewichts- zu Wertzöllen, anderseits Lockerung von starren Subventionssätzen, Ausgabenbremse mit fakultativem Referendum für Parlamentsbeschlüsse, die über die Anträge des BR hinausgehen, Aufhebung von Zollrückerstattungen — fanden kaum Echo (Vat., 23.5.86). Septembergespräche: Presse vom 10.9.86.
[5] Botschaft des Bundesrates... zum Voranschlag... für das Jahr 1987..., S.67. Vgl. auch unten (Finanzplanung).
[6] Bericht des Bundesrates zu den Haushaltperspektiven 1988-1990, in Botschaft des Bundesrates... zum Voranschlag... für das Jahr 1987..., S. 63 ff. Vgl. dazu SPJ, 1985, S. 80 f. Zum Ausgleich der kalten Progression vgl. SPJ, 1983, S. 87 ; 1984, S. 83 f.; zu den Abzügen für Aufwendungen für die zweite und dritte Säule vgl. SPJ, 1985, S. 87 u. 149 f.