Année politique Suisse 1986 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Generelle Verkehrspolitik
Das wichtigste Ereignis im Bereich der generellen Verkehrspolitik stellte 1986 der parlamentarische Entscheid über die beiden Verfassungsartikel zur koordinierten Verkehrspolitik (KVP) dar. Nachdem während Jahren über eine Gesamtverkehrskonzeption diskutiert worden war, legen diese Verfassungsgrundsätze nun die Aufgaben von Bund und Kantonen im Verkehrsbereich fest, regeln die Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen, verankern das Kostendeckungsprinzip und ermöglichen die langfristige Koordination und Finanzierung leistungsfähiger Anlagen für den öffentlichen und privaten Verkehr. Bei den in Artikel 37 geregelten Finanzierungsgrundsätzen lehnte der Nationalrat Anträge der Linken auf Schaffung einer gemeinsamen Kasse für sämtliche Verkehrsaufgaben im Verhältnis drei zu zwei ab und schloss sich der Version des Ständerates vom Vorjahr an. Hingegen sprach sich die grosse Kammer deutlich dagegen aus, die beim Strassenverkehr geltende Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen auf den öffentlichen Verkehr auszudehnen. Durch diese Ablehnung des bundesrätlichen Konzepts einer Netzhierarchie bleibt die bisherige finanzielle Mitverantwortung des Bundes für den öffentlichen Regionalverkehr aufrechterhalten. Der Ständerat, der sich in der ersten Beratung knapp für die Netzhierarchie ausgesprochen hatte, schloss sich in der Folge mit 24 gegen 18 Stimmen dem Nationalrat an [2]. Obwohl die noch dem Volk zu unterbreitende Vorlage als nicht sehr weitgehend, dafür aber konsensfähig beurteilt wurde, meldeten die Verkehrsverbände mit Ausnahme des VCS grundsätzliche Opposition an. Ihr Haupteinwand richtet sich gegen die Möglichkeit einer vorübergehenden Aufhebung der Zweckbindung der «Kassen» für Strasse und Schiene im Interesse übergeordneter Ziele. Zusätzlich griff der TCS ein Argument der Vertreter von öffentlichem Verkehr und Umweltschutz auf und bemängelte, dass der öffentliche Agglomerationsverkehr in der KVP ausgeklammert bleibe. Dies sei der einzige Bereich, in welchem sich der TCS mit einer Abweichung vom Grundsatz der Zweckbindung einverstanden erklären könne [3].
Eine Basiserschliessung des ganzen Landes mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dichte Fahrpläne und günstige Tarife strebt die im Berichtsjahr vom LdU eingereichte eidgenössische Volksinitiative «zur Förderung des öffentlichen Verkehrs» an, die von den Umweltschutzverbänden, den Grünen sowie dem Schweizerischen Eisenbahnerverband (SEV) mitgetragen wird. Solange die KVP-Verfassungsbestimmungen keinen gemeinsamen Verkehrsfonds vorsehen, soll nach der sogenannten SBB-Initiative eine Umverteilung der bisher für den Strassenverkehr bestimmten Treibstoffzölle und -zollzuschläge erfolgen. Ein Drittel davon — nach den heutigen Zahlen rund 800 Mio Fr. pro Jahr — müsste für eine verbesserte Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs freigestellt werden [4].
Nach dem 1985 in Kraft gesetzten Treibstoffzollgesetz ist die Verwendung von Treibstoffzollerträgen auch für gewisse Bahninvestitionen möglich. Der Bundesrat verabschiedete im Berichtsjahr dazu drei Ausführungsverordnungen. Diese regeln die Ausrichtung von Bundesbeiträgen an private Bahn-Anschlussgeleise, an die Aufhebung oder Sicherung von Niveauübergängen und an andere Massnahmen zur Trennung von öffentlichem und privatem Verkehr sowie an den Bau von Parkplätzen bei Bahnhöfen von öffentlichen Verkehrsmitteln [5].
Als Antwort auf das Ende 1985 von den Regierungsparteien verabschiedete « 6-Punkte-Programm» zur Förderung des öffentlichen Verkehrs legte der Bundesrat im Februar die Botschaft über die Finanzierung von Tariferleichterungen im öffentlichen Verkehr vor. Damit soll — in Ergänzung zu den Verbesserungen des Leistungsangebots entsprechend dem Konzept «Bahn 2000» — das Verkehrsverhalten der Bevölkerung über die Preisgestaltung beeinflusst werden. Die wichtigste Massnahme mit dem grössten Umsteigeeffekt ist die Reduktion des Halbtaxabonnements auf den Einheitspreis von 100 Fr. Die Förderungsmassnahmen sind für eine Dauer von sechs Jahren geplant und kosten den Bund rund 600 Mio Fr. Mit der Vorlage entsprach die Regierung auch einer Reihe von Postulaten der Linken und der LdU/EVP-Fraktion, die 1985 im Zusammenhang mit der Walddebatte überwiesen worden waren. Das Parlament stimmte diesem Massnahmenpaket zu, wobei sich Opposition von seiten der Freisinnigen ergab. Im Nationalrat begründete die FDP-Fraktion einen Rückweisungsantrag — den sie allerdings nicht aufrechterhielt — mit dem Fehlen eines Gesamtkonzepts für die Förderung des öffentlichen Verkehrs. Im Ständerat verfocht der Freisinnige Letsch (AG) erfolglos einen Nichteintretensantrag mit der Begründung, der öffentliche Verkehr sei über den Ausbau der Infrastruktur und nicht über Tariferleichterungen zu fördern [6].
Die Belastung des Strassenverkehrs mit Sonderabgaben war weiterhin Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Die beiden Volksinitiativen zur Abschaffung der Autobahnvignette und der Schwerverkehrsabgabe wurden im Berichtsjahr eingereicht. Der Bundesrat setzte seinen Kampf gegen die Retorsionsmassnahmen des Auslandes fort und wurde darin auch vom Parlament mit einer Motion unterstützt. Im Gegensatz zur Volkskammer lehnte hingegen der Ständerat den zweiten Teil dieses von der SVP-Fraktion eingereichten Vorstosses ab, der eine finanzielle Entschädigung des schweizerischen Transportgewerbes verlangt hatte [7].
Auf Antrag des Bundesrates empfahl das Parlament die VCS-Initiative «für eine gerechte Belastung des Schwerverkehrs» zur Ablehnung — nicht zuletzt mit der Begründung, dass mit dem einen der beiden KVPArtikel die verfassungsmässige Grundlage zur Erhebung einer kostendeckenden Schwerverkehrsabgabe geschaffen werde. Auf die Forderung des VCS, zuerst über die KVPVorlage abstimmen zu lassen, ging die Regierung nicht ein, obwohl sich die Initianten bereit erklärt hatten, bei einer Annahme der KVP-Artikel ihr Begehren zurückzuziehen. Im Abstimmungskampf unterstützten die Linke, der LdU, die EVP, die Grünen und die NA den VCS in seinem Kampf um eine leistungsabhängige und nicht zweckgebundene Schwerverkehrsabgabe. Am 7. Dezember wurde die Initiative mit Zweidrittelmehrheit verworfen, wobei die höchsten Ja-Stimmenanteile in den vom Transitverkehr besonders betroffenen Ständen Tessin und Uri sowie in den Grossstadtkantonen Basel, Zürich und Genf zu verzeichnen waren. Eine Nachanalyse zeigte, dass für den ablehnenden Volksentscheid namentlich die vom Lastwagengewerbe ins Feld geführte Verteuerung der Transportkosten und die befürchteten neuen Gegenmassnahmen des Auslandes ausschlaggebend waren [8].
 
[2] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 29 ff.; 1987, S. 553 ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 825 ff. und 829 ff. ; 1987, 5.169 ; BBl, 1987, I, S. 979 ff.; Presse vom 5. und 6.3.86; 19.12.86; vgl. SPJ, 1985, S. 105 sowie oben, Teil I, 5 (Einnahmen- und Ausgabenordnung): Siehe ferner Presse vom 15.1.86; SGT, 24.2.86; BZ, 1.3.86; TA, 4.3.86; Bund, 29.3.86; 6.12.86; SHZ, 36a, 10.9.86; VCS-Zeitung, 1986, Nr.3, S.23; C. Kaspar, «Netzhierarchie (Hierarchie der Infrastruktur) und kantonale Verkehrskonzepte», in Jahrbuch der Schweiz, Verkehrswirtschaft 1986, St. Gallen 1987, S. 101 ff.; L. Schlumpf: «Verkehrspolitik im Gegenwind», in Documenta, 1986, Nr. 1, S. 21 ff.
[3] TCS: TA, 21.6.86; 25.11.86. ACS: NZZ, 14.6.86; Ww, 30, 24.6.86. Schweiz. Strassenverkehrsverband, FRS 1986, Bern 1987, S. 27 f.; NZZ, 15.3.86; 26.6.86. Nutzfahrzeugverband, Astag: Presse vom 2.7.86.
[4] BBl, 1986, I, S. 1281 ff.; Presse vom 25.2.86; vgl. SPJ, 1984, S. 113.
[5] Anschlussgeleise-VO: AS, 1986, S. 750 ff. ; NZZ, 24.11.86 ; vgl. Amtl. Bull. NR, 1986, S. 250 f. ; Gesch.ber., 1986, S. 365 sowie SPJ, 1985, S. 116. Verkehrstrennungs-VO: AS, 1986, S. 1198 ff. ; SGT, 4.1.86. Bahnhofparkplatz-VO: AS, 1986, S.1201 ff.; Ww, 11, 13.3.86. Zum Treibstoffzollgesetz siehe SPJ, 1985, S. 106.
[6] BBl, 1986, I, S. 913 ff. ; III, S. 413 ; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 899 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 548 ff.; Presse vom 27.2.86; SHZ, 15, 10.4.86; 20, 15.5.86; 26, 26.6.86. Siehe auch Amtl. Bull. NR, 1986, S. 920 ff. (Parlamentarische Initiativen Hubacher, sp, BS und Bircher, sp, AG). Vgl. ferner SPJ, 1985, S. 105 f. und 125 f., oben, Teil I, 5 (Einnahmenordnung) sowie unten (Agglomerationsverkehr, Eisenbahnverkehr und Schiffahrt). Zur Förderung des öffentlichen Verkehrs siehe auch E. Boss, Eine Sozialbilanz für öffentliche Verkehrsunternehmungen, Bern 1986; F. Bürki, «Was kann der Bund für den öffentlichen Verkehr aufwenden?», in Jahrbuch der Schweiz. Verkehrswirtschaft 1986, S. 67 ff.; W. Schobinger, 50 Jahre Verkehrspolitik, 50 Jahre LITRA, Informationsdienst für den öffentlichen Verkehr, Bern 1986. Zur kantonalen Gesetzgebung über die Förderung des regionalen öffentlichen Verkehrs siehe unten, Teil II, 4c.
[7] Initiativen : BBl, 1986, II, 5.1270 ff. und 1354; TA, 25.6.85 ; 9.7.86 ; vgl. SPJ, 1985, S. 107 f., Anm. 6. Eine weitere Initiative gegen die Schwerverkehrsabgabe wurde zurückgezogen (BBl, 1986, III, S. 953 ; Bund, 20.6.86). Retorsionsmassnahmen : Amtl. Bull. StR, 1986, S. 54 ff.; siehe auch SPJ, 1985, S. 77 f., 81 und 107 f. sowie oben, Teil I, 2 (Relations économiques bilatérales) und 5 (Einnahmenordnung).
[8] Parlament: Amtl. Bull. NR, 1986, S. 91 ff. und 1035 ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 328 ff. und 437; BBl, 1986, II, S. 648 f. VCS-Erklärung : NZZ, 17.6.86. Abstimmungskampf: TA, 22.10.86 ;18.11.86 ; 24.11.86 ;1.12.86 ; BZ, 8.11.86; 15.11.86; 24.11.86; 29.11.86; SHZ, 48, 27.11.86; VCS-Zeitung, 1986, Nr. 5; vgl. Dokumentation zu den Parolen der Parteien und Verbände (eidg. und kantonale) im FSP, Bern. Volksabstimmung vom 7. Dezember (485 930 Ja: 948 612 Nein): BBl, 1987, I, S. 473 ff.; Presse vom 8.12.86; VCS-Zeitung, 1987, Nr. 1, S. 16; Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 7. Dezember 1986, Zürich 1987. Siehe auch SPJ, 1985, S. 77 f., 81 und 107 f. sowie oben, Teil I, 5 (Einnahmenordnung).