Année politique Suisse 1986 : Infrastruktur und Lebensraum / Erhaltung der Umwelt
Umweltpolitik
Die Verunsicherung in der Bevölkerung angesichts von Umweltkatastrophen wie dem Reaktorunglück in Tschernobyl und der Vergiftung des Rheins infolge des Sandoz-Unfalls in Schweizerhalle führte im Berichtsjahr zu einer
Verschärfung der Diskussion um die Umweltpolitik. Während Linke und Grüne solche verheerenden Unfälle als logische Konsequenz der modernen Zivilisation mit ihrer potentiell lebensbedrohenden Grosstechnologie einschätzten und deshalb eine radikale Umkehr hin zu einer ökologisch ausgerichteten Wirtschaftsweise forderten, begnügten sich bürgerliche Kreise zumeist damit, zusätzliche Sicherheitsmassnahmen zu verlangen. Neben diesen Katastrophen stand das Problem der Luftreinhaltung nach wie vor im Zentrum, hatte sich doch der Zustand des Waldes erneut erheblich verschlechtert. Vermehrt ins Bewusstsein der Bevölkerung rückte aber auch die steigende Belastung von Luft, Boden und Wasser durch umweltgefährdende Stoffe sowie das ungelöste Abfallproblem
[1].
In der Nacht auf den 1. November
kam es in einer Lagerhalle der Firma Sandoz zu einem Chemiegrossbrand, der katastrophale Auswirkungen auf das Ökosystem des Rheins hatte. Durch das mit grossen Mengen von Agrochemikalien angereicherte Löschwasser gelangten unter anderem giftige Insektizide und Quecksilberverbindungen in den Fluss und vernichteten den gesamten Bestand an Fischen und Mikrolebewesen bis weit über die Landesgrenzen hinaus. Die Wiederbelebung des Rheins wird nach Ansicht von Experten mindestens zehn Jahre dauern. Über Stunden war zudem unklar, ob der Brand, bei dem gegen 800 Tonnen Chemikalien in Flammen aufgingen, eine akute Gesundheitsgefährdung darstelle. Niemand wusste genau, welche Stoffe die stinkende Chemikalienwolke enthielt — nicht zuletzt deshalb, weil die Firma Sandoz keine genaue Inventarliste der gelagerten Stoffe vorlegen konnte. Zwar war noch in der Nacht Katastrophenalarm ausgelöst worden, doch funktionierte die Warnung und Information der Bevölkerung und namentlich auch der Rheinanliegerstaaten, die ihr Trinkwasser teilweise aus dem Fluss beziehen, nicht bzw. erfolgte zu spät. Die ungenügende Informationspolitik der Basler Behörden sowie der Sandoz löste Angst und Verunsicherung aus, war doch das reale Ausmass der Bedrohung während Stunden ungewiss. Dass Schweizerhalle kein Einzelfall war, zeigte eine ganze Reihe von weiteren, kleineren Chemieunfällen, die in der Folge öffentlich bekannt wurden
[2]. In mehreren
Demonstrationen im In- und Ausland gaben die Betroffenen ihrem Unmut und ihrer Angst Ausdruck und forderten unter anderem ein Verbot von umwelt- und gesundheitsgefährdenden Produktionsverfahren. Nachdem die Sandoz die Katastrophe anfangs noch zu einem blossen Ereignis heruntergespielt hatte, entschuldigte sie sich später bei der Bevölkerung. Drei Wochen nach dem Unglück wandte sich erstmals Sandoz-Präsident Moret an die Öffentlichkeit und erklärte, dass sein Konzern für finanzielle Schäden aufkommen werde. Um das Vertratien der Bevölkerung zurückzugewinnen, will die Sandoz ihre Informationspolitik verbessern sowie eine umweltschonendere Produktion anstreben
[3].
Im Namen der Gesamtregierung gab
Bundesrat Egli am 2. Dezember vor der eigens dazu einberufenen Vereinigten Bundesversammlung eine Erklärung zur Chemiekatastrophe ab. Er kündigte die Verbesserung der Melde- und Alarmorganisation, die Inventarisierung potentiell gefährlicher Anlagen sowie eine wirksamere staatliche Kontrolle an, appellierte aber auch an die Selbstverantwortung der Industrie, bessere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. In der parlamentarischen Diskussion bestand zwar Einigkeit darüber, dass solche Katastrophen künftig verhindert werden müssten, doch gingen die Meinungen über die nötigen Vorkehrungen weit auseinander. Vertreter der Linken, der LdU/EVP-Fraktion, der Grünen und der NA forderten rigorose staatliche Kontrollen sowie eine Beschränkung der Produktion gefährlicher Erzeugnisse. Die Mehrheit der bürgerlichen Redner dagegen warnte davor, sich zu Überreaktionen hinreissen zu lassen ; sie gab ihrem Vertrauen in die Selbstverantwortung der Industrie Ausdruck und forderte diese zu einem Ausbau ihrer Sicherheitsvorkehrungen auf. Jedoch anerkannten gerade einige Industrievertreter die Berechtigung verstärkter staatlicher Interventionen
[4].
Nachdem 1985 eine Stagnation des
Waldsterbens festgestellt worden war,
verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Waldes im Berichtsjahr alarmierend. Aus der Sanasilva-Waldschadeninventur 1986 geht hervor, dass die Zahl der geschädigten Waldbäume innert Jahresfrist um 14% auf 50% zugenommen hat. Dabei sind die Laubbäume (+16%) stärker betroffen als die Nadelbäume (+13%). Den grössten Schadenanteil trägt die Alpenregion mit 60% kranken Bäumen (+ 17%); auf der Alpensüdseite sind es sogar 65%. Angesichts der bedrohlich steigenden Schäden wurde eine Fortsetzung des 1987 auslaufenden Sanasilva-Programms beschlossen. Da seine Volksinitiative «Kampf dem Waldsterben» nicht zustande kam, lancierte der Umweltschützer F. Weber eine neue Initiative «Rettet unsere Wälder», die ebenfalls verlangt, dass die Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung auf den Stand von 1955 reduziert wird
[5]. Vom Parlament war der Bundesrat anlässlich der Sondersession zum Thema Waldsterben im Vorjahr aufgefordert worden, in einem Konzept festzulegen, auf welchen Stand und mit welchen zusätzlichen Massnahmen die Luftqualität verbessert werden solle. Nach diesem nun vorgelegten Luftreinhalte-Konzept will die Landesregierung die Luftbelastung so weit reduzieren, dass sie wieder den Stand der 50er Jahre erreicht. Sie kam allerdings zum Schluss, dass das gesteckte Ziel bei den Stickoxid- und Kohlenwasserstoff-Emissionen mit den ins Auge gefassten Massnahmen nicht erreicht werden könne. Aufgrund der alarmierenden Ergebnisse des Sanasilva-Waldschadenberichts forderte Nationalrat Künzi (fdp, ZH) in einer dringlichen Interpellation deshalb weitergehende Massnahmen. Der Bundesrat anerkannte deren Notwendigkeit und gab zugleich zu bedenken, dass ihre Realisierung in erster Linie vom politischen Willen des Parlaments abhänge
[6].
Im Berichtsjahr wurden
vier weitere Ausführungsverordnungen zum Umweltschutzgesetz (USG) erlassen. Seit dem 1. September 1986 gelten die Verordnung über
umweltgefährdende Stoffe (Stoffverordnung, StoV) und jene über
Schadstoffe im Boden (VSBo), ab dem 1. April 1987 die
Lärmschutzverordnung (LSV) sowie die Verordnung über den Verkehr mit
Sonderabfällen (VVS). Die Stoffverordnung setzt mit ihren Vorschriften über Herstellung, Abgabe, Verwendung und Beseitigung von umweltgefährdenden Stoffen bei der Quelle von Umweltbelastungen an. Dabei geht sie von einer umfassenden Sorgfaltspflicht beim Umgang mit chemischen Stoffen und Erzeugnissen aus. Um die Gefährdung von Mensch und Umwelt auf ein Minimum zu begrenzen, schreibt die StoV eine dreistufige Kontrolle sowie die Weitergabe von umweltrelevanten Informationen an die Verbraucher vor. Nach dem Verursacherprinzip ist der Hersteller jedes Stoffes im Rahmen der Selbstkontrolle verpflichtet, dessen Umweltverträglichkeit zu untersuchen und zu beurteilen. Dazu kommen Anmelde- bzw. Bewilligungsverfahren für neue und bestimmte alte Stoffe (Risikogruppen) sowie als weitere Kontrolle die Marktüberwachung. Zu diesen allgemeinen Bestimmungen werden in laufend nachgeführten Anhängen Vorschriften für besonders umweltgefährdende Stoffgruppen erlassen
[7].
Abgeschlossen wird die Reihe der wichtigen Ausführungserlasse zum USG mit der
Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die im Berichtsjahr in die Vernehmlassung geschickt wurde. Während das USG nur allgemein festhält, dass für geplante Anlagen, welche die Umwelt erheblich belasten können, eine UVP durchzuführen sei, führt der Verordnungsentwurf nun über 80 prüfungspflichtige Anlagetypen verbindlich auf. Bei diesen handelt es sich vorwiegend um Grossanlagen in den Bereichen Verkehr, Energie, industrielle Betriebe, Wasserbau, Landesverteidigung, Entsorgung, Sport, Tourismus und Freizeit. Die UVP wird in die bereits bestehenden Genehmigungsverfahren eingebaut; sie soll eine umfassende Beurteilung der Umweltauswirkungen des projektierten Vorhabens erlauben. Lassen sich allfällige Mängel eines Projektes nicht korrigieren, wird dieses zur Ablehnung empfohlen. Bei bestimmten Anlagetypen räumt die UVP-Verordnung dem Bundesamt für Umweltschutz (BUS) ein Anhörungsrecht ein. Die Ergebnisse einer UVP müssen wegen der vorgesehenen Verbandsbeschwerde öffentlich eingesehen werden können; seit mindestens zehn Jahren gesamtschweizerisch tätige Umweltschutzorganisationen sind beschwerdeberechtigt
[8].
Der effiziente Vollzug des USG rückt nun — nachdem die wichtigsten Ausführungsbestimmungen zu den einzelnen Umweltbereichen vorliegen — ins Zentrum der schweizerischen Umweltpolitik. Um diese Aufgabe zu erfüllen,
müssen in den meisten Kantonen die Umweltschutzämter personell aufgestockt, zum Teil auch erst eingerichtet werden. Erhöhte Bedeutung kommt auch der Aus- und Weiterbildung von Umweltschutzexperten zu. Die Arbeiten zu einem Schulungskonzept für kantonale und kommunale Vollzugsbehörden sind im Gange
[9].
[1] Zu Tschernobyl siehe oben, Teil I, 4c (Lebensmittel) und 6a (Politique énergétique); zur Technologiediskussion siehe oben, Teil I, 4a (Wirtschaftssystem). Siehe ferner H.U. Reck, « Angst und Technik », in WoZ, 52/53, 23.12.86; U. Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg zu einer anderen Moderne, Frankfurt/M. 1986; W. Aeberhard, Die Umweltpolitk im Spannungsfeld politischer und wirtschaftlicher Interessen, Köln 1985.
[2] Presse vom 3.11.86 bis Ende Jahr; siehe auch G. Bachmann / P. Burri / T. Maissen (Hg.), Das Ereignis. Chemiekatastrophe am Rhein, Basel 1986. Rheinvergiftung: BaZ, 14.11.86; 27.12.86; NZZ, 20.12.86. Zu den direkten gesundheitlichen Auswirkungen siehe TA, 29.12.86; Soziale Medizin, 14/1987, Nr. 1/2, S. 4 ff. In den Organen der Unternehmerverbände fand die Katastrophe kaum Erwähnung; die breite Information in den Medien über den Unfall wurde von ihnen als Panikmacherei bezeichnet (SAZ, 51/52, 18.12.86; SGZ, 2, 8.1.87). Zur Informationspolitik siehe auch Klartext, 1986, Nr. 6, S. 7 ff. und 10 ff. Zu den Reaktionen des Auslands siehe oben, Teil I, 2 (Relations bilatérales). Bekanntwerden weiterer Chemieunfälle: TW, 12.11.86; Presse vom 15.11.86; BaZ, 21.11.86; 2.12.86.
[3] Demonstrationen : Presse vom 3.1 1.86 ; 10.1 1.86 ; 15.12.86. Die Katastrophe mobilisierte auch zahlreiche Schülerinnen und Schüler zu politischen Aktivitäten. Im weiteren wurde in Basel eine Aktion Selbstschutz gegründet (WoZ, 47, 21.11.86; 48, 24.11.86). Künstler aus der Region führten in Basel Aktionen durch (BZ, 23.12.86; M. Aeberli u.a. (Hg.). Kunst und Katastrophe: Zur Lage, Basel 1986). Zur internationalen SP-Chemietagung vom 13.12.86 in Basel siehe SP-Information, 216, 25.1 1.86 ; 218, 18.12.86 ; Presse vom 15.12.86 sowie Rote Revue, 66/1987, Nr. 1. Stellungnahme der Sandoz: BaZ, 12.11.86 (Kritik); Presse vom 14.11.86; 22.11.86 (Moret).
[4] Regierungserklärung und Diskussion zum Chemieunfall in Basel : Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1864 ff. und 2103 ; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 754 ff.; Presse vom 12.12.86 ; 16.12.86. Zur Bundesratserklärung siehe auch TA, 3.12.86; BaZ, 6.12.86. In diesem Zusammenhang wurde von Vertretern aller Parteien eine ganze Reihe von Vorstössen eingereicht, u.a. eine parlamentarische Initiative und 12 Motionen (siehe Verhandl. B. vers., 1986, V). Parlamentsdebatten zu diesem Thema fanden auch in BS und BL statt, wobei insbesondere die Einrichtung eines Chemieinspektorats gefordert wurde (BaZ, 28.11.86 bzw. 12.12.86).
[5] Waldsterben: Presse vom 15.8.86; 28.11.86; TA, 2.9.86; SHZ, 47, 20.11.87; Verwaltung + Organisation, 40/1986, S. 196 ff.; BA für Forstwesen und Landschaftsschutz / Eidg. Anstalt für das fortliche Versuchswesen, Sanasilva-Waldschadenbericht 1986, Bern 1986; siehe auch SPJ, 1985, S. 95 f. und 125 sowie oben, Teil I, 4c (Forstpolitk). Initiativen: BBl, II, 1986, S. 85 f.; SPJ, 1984, S. 96, Anm. 22. Ein Expertenbericht kam zum Schluss, dass die von den Regierungen Europas in Aussicht gestellte Verminderung des Schwefelausstosses um 30 % zur Aufhaltung des Waldsterbens bei weitem nicht ausreiche ; die Reduktion müsste vielmehr 80 % betragen (TA, 11.9.86 ; vgl. SPJ, 1985, S. 128, Anm. 9). Zum Sterben der Obstbäume siehe SZ, 26.4.86 ; Vat., 28.6.86 ; TA, 8.7.86; SGT, 9.12.86.
[6] Zum Luftreinhalte-Konzept siehe unten (Luftreinhaltung). Interpellation Künzi: Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1991 ff. Ähnlich wie Künzi reagierten auch Umweltschutzorganisationen (TA, 18.12.86). Siehe auch die vom NR als Postulat überwiesene Motion Mauch (sp, AG), die den BR auffordert, zur Erfassung der Umweltrisiken ein umweltpolitisches Frühwarnsystem aufzubauen (Amtl. Bull. NR, 1986, S. 950 f.).
[7] USG: siehe SPJ, 1985, S. 126.f. StoV : AS, 1986, S. 1254 ff.; Presse vom 10.6.86; 30.8.86 ; SGT, 28.8.86 (Stellungnahmen zur StoV); Umweltschutz in der Schweiz, 1986, Nr. 3, S. 1 ff. und Nr. 4, S. 27 ff. (Verfahren bei alten Stoffen). VSBo, VVS und LSV : siehe unten (Boden, Abfälle bzw. Lärm). Zur Frage nach der Wirksamkeit des Umweltstrafrechts siehe Ww, 3, 16.1.86; Plädoyer, 4/1986, Nr. 6, S. 9 ff.
[8] Presse vom 17.5.86; Vr, 20.6.86; Bund, 20.7.86; NZZ, 22.7.86; 14.8.86; 25.8.86; Umweltschutz in der Schweiz, 1986, Nr. 2, S. 1 ff.; Plädoyer, 4/1986, Nr. 6, S. 11 ff.; SGU-Bulletin, 1986, Nr. 3, S. 5 ff.; siehe auch BUS, Handbuch UVP (Entwurf), Bern 1986 sowie T. Loretan, Die Umweltverträglichkeitsprüfung, Zürich 1986. Beschwerderecht: BBl, 1986, II, S. 307; BaZ, 24.5.86 ; AT, 30.7.86. Erste Auswertung der Vernehmlassung: TW, 20.10,86; Verkehr und Umwelt, 1987, Nr. 1, S. 28 ff.
[9] Vollzug des USG: SP-Information, 202, 1.4.86; TW, 25.4.86; Presse vom 31.5.86; Vat., 4.8.86; 5.8.86; 7.8.86; vgl. auch E. Kopp, «Umweltpolitik: Vom Verfassungsauftrag zum Vollzug», in Documenta, 1986, Nr. 2, S. 19 ff.; Bilanz, 1987, Nr. 2, S. 38 ff.; Verkehr und Umwelt, 1987, Nr. 1, S. 40 ff.; W. Buser (Hg.), Vollzug des Umweltschutzgesetzes, Bern 1986. Schulungskonzept: Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1471. Zur kantonalen Umweltschutzgesetzgebung siehe unten, Teil II, 4 f.
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