Année politique Suisse 1986 : Infrastruktur und Lebensraum / Erhaltung der Umwelt
 
Luftreinhaltung
Angesichts der erneuten Verschlechterung des Waldzustandes gehört die Luftreinhaltung weiterhin zu den vordringlichen Aufgaben der Umweltpolitik. Entgegen der Einschätzung der Automobilverbände, das Problem der Luftbelastung durch Motorfahrzeuge sei unter Kontrolle, betonte der Bundesrat, das lufthygienische Ziel sei erst erreicht, wenn die von der Luftreinhalteverordnung (LRV) vorgegebenen Immissionsgrenzwerte unterschritten seien. Zur Reduktion der Schadstoffe in der Luft bedürfe es daher weiterer Anstrengungen [10]. Da die Luftverschmutzung nicht nur die Umwelt, sondern auch die Gesundheit der Menschen in zunehmendem Mass gefährdet, appellierten 3500 Schweizer Ärztinnen und Ärzte an den Bundesrat, Notstandsmassnahmen zu ergreifen. Insbesondere verlangten sie eine drastische Reduktion des Treibstoffverbrauchs im Privatverkehr. Mit der Überweisung eines Postulats Carobbio (psa, TI) forderte der Nationalrat die Regierung auf, medizinische Untersuchungen über den Zusammenhang von Luftverschmutzung und Erkrankungen der Atemwege bei Kindern durchführen zu lassen. Zunehmend als Problem wahrgenommen werden auch die sogenannten Wohngifte in der Raumluft; verschiedene Umweltschutzexperten und Kantonschemiker schlugen deshalb vor, einen weiteren Anhang zur Stoffverordnung zu schaffen, der die Verwendung von Stoffen in Innenräumen regelt [11].
Die Schweiz ist daran interessiert, dass auch in anderen Staaten Anstrengungen zur Verbesserung der Luftqualität unternommen werden. Der Bundesrat ersuchte das Parlament um die Ermächtigung, das von der Schweiz im Vorjahr unterzeichnete Zusatzprotokoll zum internationalen Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverschmutzung zu ratifizieren. Dieses verlangt die Verringerung der Schwefelemissionen um mindestens 30% bis spätestens 1993. Der Ständerat genehmigte das Protokoll einstimmig und überwies ein Postulat seiner vorberatenden Kommission, das die Landesregierung auffordert, auch bezüglich der internationalen Begrenzung anderer Schadstoffemissionen ihre Anstrengungen zu verstärken [12].
Der Bundesrat verabschiedete das vom Parlament geforderte Luftreinhalte-Konzept, in welchem er — ausgehend von einer Darstellung des Ist-Zustandes und den Auswirkungen der Luftverschmutzung auf Mensch und Umwelt — den Soll-Zustand der Luftqualität festlegte. Da die Schadstoffemissionen seit den 50er Jahren erheblich zugenommen haben und heute die in der LRV festgelegten Immissionsgrenzwerte v.a. in den städtischen Agglomerationen zum Teil um das Zwei- bis Vierfache überschritten werden, muss zur Verminderung der Luftbelastung der Schadstoffausstoss drastisch reduziert werden. Das Luftreinhalte-Konzept sieht vor, dass bei den Schwefeldioxid-Emissionen bis 1990 der Stand von 1950 und bei den Stickoxid- und Kohlenwasserstoff-Emissionen bis 1995 der Stand von 1960 erreicht werden soll. Unter Einbezug der zu erwartenden Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung wurde eine Reihe von Massnahmen aus den Bereichen Verkehr und Energie auf ihre Wirksamkeit und Realisierbarkeit hin untersucht und eingeteilt in solche, die der Bundesrat möglichst rasch zu realisieren gedenkt oder je nach Ergebnis der noch laufenden Abklärungen ergreifen wird, und solche, die politisch gegenwärtig kaum realisierbar sind oder aus heutiger Sicht keinen Beitrag zur Verbesserung der lufthygienischen Situation leisten können. Der Bundesrat verzichtete jedoch darauf, einschneidende Massnahmen, die früher bereits behandelt und abgelehnt worden waren (z.B. Treibstoffrationierung, Öko-Bonus, motorfahrzeugfreie Tage), erneut zu prüfen. Hingegen beabsichtigt er, allenfalls eine Verschärfung der LRV zu verfügen und insbesondere eine zweckgebundene Lenkungsabgabe auf fossiler Energie einzuführen. Die Gesamtbilanz der Untersuchungen ergab folgendes Bild: Mit den vorgesehenen Massnahmen kann bei den Schwefeldioxid-Emissionen das lufthygienische Ziel erreicht werden, bei den Stickoxid- und Kohlenwasserstoff-Emissionen hingegen nicht. Der Bundesrat rief deshalb die Kantone und Gemeinden dringend auf, auch ihrerseits die im Rahmen des Vollzugs der LRV notwendigen Vorkehrungen gegen übermässige Immissionen so rasch als möglich zu ergreifen. Seinerseits beabsichtigt er, auch Massnahmen, die er gegenwärtig für politisch kaum realisierbar hält, im Hinblick auf ihre allfällige spätere Durchsetzbarkeit weiter im Auge zu behalten.
Alle Bundesratsparteien, die Automobil- und die Umweltverbände begrüssten den bundesrätlichen Massnahmenkatalog und bekräftigten ihr grundsätzliches Einverständnis mit der Stossrichtung des Luftreinhalte-Konzepts. Von den Massnahmen, die der Bundesrat möglichst rasch verwirklichen möchte, stiessen die vorgeschlagenen Verschärfungen der Abgasvorschriften mehrheitlich auf Zustimmung. Hingegen meldeten die FDP, die SVP und die Automobilverbände gegen die Einführung einer Lenkungsabgabe auf Brenn- und Treibstoffen, aber auch gegen die Erhebung einer leistungsabhängigen Schwerverkehrssteuer Bedenken an. Konsequentere Schritte zur Verminderung der Luftbelastung durch den Verkehr verlangten die Umweltorganisationen und die SP. Dabei stellten sie auch eine weitere Zunahme der Mobilität in Frage [13]. Einstweilen ist das Parlament noch nicht bereit, drastische und bei breiten Bevölkerungsschichten wenig populäre Massnahmen zu beschliessen. So lehnte der Nationalrat eine Standesinitiative des Kantons Bern, welche die Vorbereitung einer Treibstoffrationierung verlangte, mit 91 zu 36 Stimment ab [14].
Im Berichtsjahr wurden die längst geforderten verschärften Abgasvorschriften für schwere Dieselfahrzeuge und motorisierte Zweiräder erlassen. Sie gelten mit Ausnahme der Mofas für vom 1. Oktober 1987 an neu in Verkehr gesetzte Fahrzeuge. Bei den Motorrädern sollen die geltenden Abgasgrenzwerte um 40-71 % gesenkt werden; neu in Verkehr gesetzte Mofas müssen ab. 1. Oktober 1988 gar um 90-94% reduzierte Grenzwerte einhalten und deshalb mit einem Katalysator ausgerüstet werden. Für schwere Motorfahrzeuge fielen die Bestimmungen mit der Übernahme der leicht verschärften europäischen Norm (ECE-Reglement Nr. 49) weniger einschneidend aus. Dass sich der Bundesrat für die vom Bundesamt für Polizeiwesen vorgeschlagenen europäischen Messverfahren und Grenzwerte entschieden hatte, wurde mehrheitlich kritisiert, hatten sich doch die Mehrzahl der Kantone, die Umweltschutzorganisationen und auch das BUS für die strengeren amerikanischen Normen ausgesprochen [15].
 
[10] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1544 ; Presse vom 30.5.85 (TCS-Studie). Zur LRV siehe SPJ, 1985, S. 127 f. sowie NZZ, 28.2.86 ; BaZ, 31.7.86; 2.8.86; wf, KK, 28, 14.7.86 ; BUS, Immissionsgrenzwerte für Luftschadstoffe, Bern 1986. Siehe auch P. Knöpfel / H. Weidner, Luftreinhaltepolitik, Band 1: Methoden und Ergebnisse der Länderstudien,,Berlin 1986.
[11] Ärzte: TA, 19.3.86; 13.12.86; BZ, 11.6.86; Presse vom 5.11.86; Bilanz, 1986, Nr. 1, S. 12 f. Postulat Carobbio: Amtl. Bull. NR, 1986, S.452. Wohngifte: TA, 2.10.86; NZZ, 14.11.86; siehe auch NZZ, 3.3.86 (Grenzwert für Formaldehyd-Konzentrationen); Ww, 52, 25.12.86; I. und R. Schawinski, Vergiftet! Wie wir ein Haus bauten, das uns krank machte, Zürich 1986. Zum Stand der Asbestsanierung siehe WoZ, 42, 17.10.86 ; siehe ferner WoZ, 44, 31.10.86; Umweltschutz in der Schweiz, 1986, Nr. 3, S. 30 ff. ; BUS, Luftbelastung durch Asbestfasern in der Schweiz, Bern 1986.
[12] BBl, 1986, III, S. 182 ff.; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 750 ff.; siehe auch SPJ, 1985, S. 128, Anm. 9. Zur «Erklärung von Saas Fee» der Umweltminister der BRD, Österreichs und der Schweiz siehe NZZ, 13.2.86 und Presse vom 1.3.86. Siehe auch BUS, Bericht 1985 über die Mitwirkung der Schweiz in der internationalen Umweltschutz-Tätigkeit, Bern 1986; P.C. Mayer-Tasch (Hg.), Die Luft hat keine Grenzen. Internationale Umweltpolitik: Fakten und Trends, Frankfurt/M. 1986.
[13] BBl, 1986, III, S. 269 ff.; Presse vom 18.9.86; Vat., 20.9.86; L'Hebdo, 39, 25.9.86; NZZ, 27.9.86; Umweltschutz in der Schweiz, 1986, Nr. 4, S. 1 ff.
[14] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1624 ff. und 1658; vgl. SPJ, 1985, S. 109, Anm. 11 und S. 235.
[15] AS, 1986, S. 1833 ff.; Presse vom 23.10.86; siehe auch TA, 14.5.86; 13.8.86; 17.9.86; SHZ, 22, 29.5.86; 34, 21.8.86; Bilanz, 1986, Nr. 9, S. 12 ff. sowie SPJ, 1985, S. 126. Für die ab 1986 geltenden Vorschriften für leichte Motorfahrzeuge siehe Vr, 30.9.86 und TA, 1.10.86 (Abgasvorschriften CH-86); TA, 28.2.86 und 19.9.86 (Abgaswartung und -kontrolle) sowie SPJ, 1985, S. 108 f. und 128. Siehe auch oben, Teil I, 6b (Strassenverkehr).