Année politique Suisse 1986 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Berufsbildung
Als ein praktisches Problem bei der Berufsbildung erwies sich das
Turn- und Sportobligatorium, lief doch im Berichtsjahr die 10jährige Einführungsfrist, welche das Bundesgesetz über die Förderung von Turnen und Sport einräumt, ab, und waren verschiedene Kantone dieser Auflage nicht nachgekommen. Der Bundesrat zeigte sich auf Anfrage nicht gewillt, diese Frist allgemein zu erstrecken
[13]. Zwei Monate, nachdem männiglich gegen die Lehrwerkstätten-Initiative die Vorteile des bestehenden Berufsbildungssystems hervorgehoben hatte, überraschte der Schweizerische Gewerbeverbandes (SGV) die Öffentlichkeit mit seinem neuen «Berufsbildungsbericht», in welchem er die Relativierung der bestehenden Gesetzesbestimmungen über die Lehrlingsausbildung befürwortet. So wird unter anderem darin angeregt, das Turn- und Sportobligatorium aufzuheben, sofern dabei die Arbeits- und Schulzeit beansprucht werde, und als Freifächer während der Arbeitszeit nur noch jene zuzulassen, welche einen direkten Bezug zum Beruf haben
[14].
Der 1985 vom BIGA beschlossene
Informatikunterricht ist seit 1986 (in der romanischen Schweiz ab 1987) mit einem Grundkurs von 20 Lektionen ein fester Bestandteil der Lehrlingsausbildung; mittelfristig soll dieser Grundkurs durch einen fachspezifischen und anwendungsorientierten Einbezug der Informatik in den obligatorischen Berufsschulunterricht abgelöst werden. Auf eine weitere Verstärkung der Informatik und anderer neuer Technologien in der Berufs- und Erwachsenenbildung zielten mehrere parlamentarische Vorstösse ab. Eine Motion von W. Carobbio (psa, TI) verlangte die Schaffung eines Zentrums für Berufsbildung, welches angesichts der tiefgreifenden technologischen Veränderungen künftige Strukturen der Berufe erarbeiten soll. In einer Publikation verlangte die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) den Abbau der beruflichen Spezialisierungen und die Entwicklung von übertrieblichen Lehrgängen
[15].
Als eine Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme des wirtschaftlichen und technologischen Wandels verstand die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) ihre Initiative «für eine gesicherte Berufsbildung und Umschulung», die nach Ablehnung auch durch den Ständerat im Herbst zur Volksabstimmung kam. Die Initiantin wollte einerseits das Recht auf eine vollwertige Berufsbildung in der Verfassung verankern, und andrerseits die Kantone dazu anhalten, zu diesem Zweck Lehrwerkstätten und Ausbildungsstätten für Umschulung und Weiterbildung zu errichten. Die bürgerlichen Parteien und die Unternehmer- und Gewerbeverbände sahen durch diesen Vorstoss die Meisterlehre angegriffen und bildeten eine geschlossene Ablehnungsfront. Unterstützt wurde das Begehren lediglich von den Linksparteien, wobei sechs Kantonalsektionen der SP — wie zuvor schon die Fraktion in den eidgenössischen Räten — der Ja-Parole des Parteivorstandes nicht folgten. Der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) gab die Stimme frei ; entgegen der ablehnenden Empfehlung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) sprachen sich dessen Frauen- und die Jugendkommission, der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) und die Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) für das Begehren aus. Die dezidierte Ablehnung der Initiative durch die Bürgerlichen bewirkte, dass im Abstimmungskampf weniger über die konkreten Forderungen der Volksinitiative diskutiert als vielmehr die Gefahr einer Systemveränderung und marxistische Unterwanderung beschworen wurde. Das Volksbegehren wurde mit 81,6 % Nein-Stimmen deutlich verworfen. Die höchsten Ja-Stimmen-Anteile wurden in den Kantonen Baselstadt und Tessin erreicht, wo bereits 1985 über eine ähnliche Forderung abgestimmt worden war.
Eine Nachanalyse der Volksabstimmung ergab, dass die SAP-Initiative nur von den Sympathisanten der kleinen Linksparteien mehrheitlich unterstützt wurde, während sich bei denjenigen der SP die Ja- und Nein-Stimmenanteile die Waage hielten. Die den bürgerlichen Parteien Nahestehenden verwarfen die Initiative zu 98 bis 100%; von den parteipolitisch Indifferenten reihten sich 88% ins gegnerische Lager ein. Als Entscheidmotive eruierte die Analyse bei den Nein-Stimmenden ein deutliches Bekenntnis zur bisherigen Meisterlehre sowie eine gewisse Skepsis gegenüber weiterreichenden Staatseingriffen in die Berufsbildung; Hauptmotiv der Befürworter war das Bedürfnis, die Situation der Lehrlinge sowie die Möglichkeiten zur Umschulung zu verbessern
[16].
Die
Zahl der Jugendlichen in der Berufsausbildung war 1986 erstmals wieder leicht rückläufig (-0,3%; Neueintritte -1,8%) und betrug 240 300. Damit trat nach dem Wachstum der letzten zehn Jahre ein Stillstand ein (Steigerung gegenüber 1976: +26%). Nach der oben erwähnten Prognose soll die Zahl der Lehrlinge, der Geburtenrate folgend, bis 1992 wieder auf das Niveau von 1976 sinken. Dieser Rückgang könnte jedoch vermindert werden durch das Verhalten der weiblichen und ausländischen Jugendlichen, welche immer häufiger eine Berufsausbildung absolvieren. Der Anteil dieser beiden Gruppen am Total der Absolventen einer Berufslehre lag im Berichtsjahr bei 40,2% (Frauen) respektive 12% (Ausländer). Regional und in einigen Branchen machte sich eine Entspannung auf dem Lehrstellenmarkt bemerkbar. Nach einer Umfrage des SGV stimmten bei etwa 30% aller Berufe Angebot und Nachfrage von Lehrstellen überein ; ein Viertel der Berufe wies eine überhöhte Nachfrage auf, während sich in der restlichen knappen Hälfte ein Lehrlingsmangel bemerkbar machte
[17].
[13] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1038 ; NZZ, 10.5.86. Auch mit der Realisierung der vom Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG) vorgeschriebenen Einführungskurse für Lehrlinge liegen die meisten Kantone in beträchtlichem Rückstand. Im Kanton Bern wurde die Vorlage für ein Zentrum für Lehrlingsturnen und Sport vom Souverän abgelehnt (Berner Presse vom 17.3.86). Zu den Einführungsgesetzen zum BBG siehe unten, Teil Il. Vgl. auch SPJ, 1985, S. 171 f.
[14] TA, 19.11.86; NZZ 21.11.86; SZ 29.11.86 (BIGA-Direktor Hug) ; SGB, 37, 4.12.86 ; SHZ, 49 a, 8.12.86. Vgl. auch Deutschschweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz, Handbuch für Lehrmeister, Luzern 1986. In einem Postulat verlangte NR Bircher (sp, AG) vom Bundesrat einen Bericht über den Stand der Realisierung des BBG und des Turn- und Sportobligatoriums ( Verhandl. B.vers., 1986, III/IV, S. 43).
[15] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 445 f., 490, 951 f., 960 und 2089 ff.; SAJV, Neue Technologien und Berufsbildung: Berufsbildung wohin?(Bern, 1986); K. Furgler, «Gedanken zum Neubau des Instituts für Berufspädagogik», in Documenta, 1986, Nr. 3, S.13 f. ; E. Wettstein, «Informatik in der Berufslehre», in Die Volkswirtschaft 59/1986, S. 205 f.; wf, Notizen zur Wirtschaft, 1986, Nr. 5 (Jugendarbeitslosigkeit und Berufsbildung); NZZ, 29.11.86; 31.5.86; Vat., 18.6.86. Vgl. auch SPJ, 1985, S. 172.
[16] Der StR empfahl die Initiative mit 36:0 zur Ablehnung (Amtl. Bull. StR, 1986, S. 12 ff. und 215; BBl, 1986, I, S. 883 f.; Presse vom 5.3.86; siehe auch Amtl. Bull. NR, 1986, S. 493). Abstimmungskampf: SAP, Für eine gesicherte Berufsbildung und Umschulung. Neue Technik, öffentliche Lehrwerkstätten, für Aus- und Weiterbildung, Antwort auf die Herausforderung, (1986); Bresche, 282, 13.1.86; 287, 24.3.86; 291, 19.5.86 — 296, 1.9.86; 299, 13.10.86 ; Vat., 20.8.86 ; TA, 22.8.86; 28.8.86 ; LNN, 23.8.86; wf, Dok., 34, 25.8.86 ; wf, KK, 38, 22.9.86; 39, 29.9.86; BZ, 29.8.86; 20.9.86; 23.9.86; NZZ, 3.9.86; 6.9.86; 12.9.86; 22.9.86; PZ, 30, 28.8.86; WoZ, 39, 26.9.86. Zu den Abstimmungsparolen siehe NZZ, 24.9.86 und den Parolenspiegel der Parteien und Verbände (eidgenössisch und kantonal) des Forschungszentrums für schweizerische Politik, Bern. Am 28. September verwarf der Souverän die Lehrwerkstätten-Initiative mit 1 162 019: 261 979 (BBl, 1986, III, S. 897 ff.; Presse vom 29.9.86). Nachanalyse: Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 28. September 1986, Zürich 1986. Siehe auch SPJ, 1985, S. 172.
[17] EDK / Bundesamt für Statistik, Morgen... wieviele Schüler?, Bern 1985 ; Bundesamt für Statistik, Schülerstatistik 1985/86, Berufsausbildung (Sekundarstufen), Bern 1986; Die Volkswirtschaft, 59/1986, S. 80 ff., 207 ff., 210 ff. (Lehrabschlussprüfungen und Lehrverträge 1985) und 766 ff. (Berufsausbildung 1985/86); Schweizer Erziehungsrundschau, 59/1986, S. 17 ff. und 37 ff.; SZ, 9.1.86; Presse vom 14.1.86; BZ, 26.2.86; 10.5.86; CdT, 25.3.86 ; Vat., 4.11.86 ; 21.12.86 ; NZZ, 27.12.86. Siehe auch oben (Primar- und Mittelschule) sowie SPJ, 1985, S. 172.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Dieser Text wurde ab Papier eingescannt und kann daher Fehler enthalten.