Année politique Suisse 1986 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kirchen
Die Öffnung der Kirchen im Sinne einer vermehrten Auseinandersetzung mit Themen des öffentlichen und politischen Lebens setzte sich auch 1986 fort. Im Zusammenhang mit einem verstärkten Engagement auf Seiten der Flüchtlinge wurde insbesondere die Berechtigung eines kirchlichen Widerstandsrechts gegen die Staatsgewalt recht intensiv diskutiert. Für den Berner Staatsrechtler P. Saladin könnten unter bestimmten, genau zu definierenden Umständen die Notstandshilfe und die Amts- und Berufspflicht eine juristische Grundlage für das Widerstandsrecht bilden. Für den Freiburger Bischof P. Mamie bleibt die Kirche ein letzter Zufluchtsort, der nicht in Frage gestellt werden darf. Andere Exponenten kirchlicher Gremien äusserten sich aber eher zurückhaltend und Bundesrätin Kopp stellte klar fest, dass der Kirchenraum kein rechtsfreier Raum sei
[15].
Bereits älteren Datums ist das
Engagement der Kirchen gegen den Rassismus, welches bei der Forderung nach praktischen Schritten jeweils zu Kontroversen führt. Die schweizerische Nationalkommission Justitia et Pax, die als beratendes Gremium der Schweizerischen Bischofskonferenz in sozialen und politischen Belangen fungiert, befürwortete Boykottmassnahmen gegen Südafrika. Sie vertrat die Ansicht, dass dieses Land ohne Druck von aussen nicht zur Abschaffung der Apartheid bewogen werden könne. In diesem Sinne forderten kirchliche Hilfswerke in Gesprächen mit der schweizerischen Bankiervereinigung die Überprüfung der Geschäftsbeziehungen und ein allfälliges Desengagement der Grossbanken in Südafrika. Im weitern reichten rund 450 Kirchenvertreter bei den eidgenössischen Räten einen Fragenkatalog ein, in dem sie sich namentlich nach dem Willen zur Verhinderung der Umgehung von internationalen Südafrikasanktionen erkundigten
[16]. Für mehr konkretes Handeln wollen sich die Kirchen auch im Bereich der Menschenrechte einsetzen. Kommissionen der evangelischen und katholischen Kirche veröffentlichten gemeinsam ein Werkbuch, mit dem sie unter anderem Wege aufzeigen wollen, wie sich jeder einzelne in Familie, Beruf und Wirtschaftsleben für die Wahrung der Menschenrechte engagieren kann. Aber auch das Bewusstsein für die spezielle ökologische Verantwortung der Christen und ihrer Institutionen soll gestärkt werden. Auf der Grundlage eines bereits im Vorjahr verabschiedeten Memorandums zum Schutze der Natur wurde eine Okumenische Arbeitsgemeinschaft Kirche und Umwelt (OKU) gegründet, die einen kirchlichen Beauftragten für Umweltfragen einsetzen will
[17]. Einen wesentlichen Anstoss zu diesem Schritt gab die Schweizerische Evangelische Synode (SES), die an zwei weiteren Tagungen in St. Gallen und Basel ihre Arbeiten fortsetzte. Sie hat nach Aussagen ihrer Vertreter in evangelischen Kreisen die Meinung bestärkt, dass sich christlicher Glaube auch in politischen Stellungnahmen und entsprechendem Handeln äussern müsse. In diesem Sinne sprachen sich die Versammlungen unter dem Eindruck von Tschernobyl für eine stufenweise Abkehr von der Kernenergie und gegen die Asylgesetzrevision aus. Bestandteil der SES war die sogenannte Zürcher Disputation, die nach dreijähriger Arbeit im Herbst zu Ende ging. Sie verarbeitete eine grosse Zahl von Anregungen zu 37 Anträgen, deren Realisierung von einem Nachfolgeorgan begleitet werden soll
[18].
In einer eher schwierigen Phase befinden sich gegenwärtig die
ökumenischen Bestrebungen. Die Schweizerische Bischofskonferenz veröffentlichte ein als Mahnung zu verstehendes Dokument über «Eucharistische Gastfreundschaft», mit dem sie deutlich macht, dass die interkonfessionelle Abendmahlsfeier nur noch in «Notfällen» möglich sein soll. Dieser Schritt zurück hinter eine weithin geübte Praxis löste vielerorts Betroffenheit aus und wurde als Schlag ins Gesicht für ökumenisch Engagierte sowie als Rückfall in vorkonziliäre Denkweise gewertet. Obwohl sich die Bischofskonferenz wie auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) für eine Weiterführung des Dialogs aussprachen, wurden einige Retourkutschen gefahren. Der SEK verzichtete vorderhand auf eine Teilnahme am vorgesehenen Rombesuch der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der Schweiz, die Deputiertenversammlung der reformierten Zürcher Kirche zog die ursprünglich geplante Zustimmung zur Errichtung eines katholischen Bistums Zürich zurück und der Zürcher Kantonsrat lehnte die Errichtung eines Lehrstuhls für katholische Theologie an der Universität ab
[19]. Zum neuen Bischof der Diözese Lugano ernannte der Papst einen engen Vertrauten, Eugenio Corecco, der bisher ordentlicher Professor für kanonisches Recht an der Universität Freiburg war. Mit Corecco nimmt zum ersten Mal ein Vertreter der theologisch konservativen Strömung «Comunione e Liberazione» in der Schweizer Bischofskonferenz Einsitz. Die Nationalsynode der Christkatholischen Kirche wählte als Nachfolger des zurücktretenden Léon Gauthier im dritten Wahlgang den Basler Pfarrer Hans Gerny zu ihrem neuen Bischof und die Abgeordnetenversammlung des SEK bestimmte für den in den Ruhestand tretenden Jean-Pierre Jornod in einer Kampfwahl Heinrich Rusterholz zum neuen Vorstandspräsidenten
[20].
[15] Bund, 4.1.86; 6.1.86; 15.1.86; NZZ, 24.3.86; Lib., 23.4.86; Vat., 23.4.86; Ww, 1.5.86; SGT, 18.6.86; vgl. auch oben, Teil I, 7d (Réfugiés).
[16] Schweiz. Nationalkommission Justitia et Pax, Unsere Verantwortung für Südafrika, Bern 1986; SZ, 27.9.86; TA, 17.12.86; NZZ, 18.12.86; vgl. auch oben, Teil I, 2 (Droits de l'homme) und 4d (Banken).
[17] Menschenrechte: SEK und Schweiz. Nationalkommission Justitia et Pax, Menschenrechte. Der Auftrag der Christen für ihre Verwirklichung, Bern 1986 ; BaZ, 22.10.86. Umwelt : SGT, 6.12.86 ; NZZ, 8.12.86 ; vgl. SPJ, 1985, S. 181.
[18] SES: SGT, 30.4.86; 7.5.86; 9.5.86; 12.5.86; BaZ, 7.5.86; 12.5.86; 6.11.86; 15.11.86; 17.11.86; NZZ, 10.5.86; 12.5.86; 17.11.86; TA, 12.5.86; 17.11.86; vgl. SPJ, 1985, S. 181 f. und H. H. Brunner, «Alternativen erproben. Die Schweiz. Evang. Synode (SES) auf ihrem fünfjährigen Weg», in Reformatio, 35/1986, S. 342 ff. Zürcher Disputation: NZZ, 10.11.86; 28.11.86; 22.12.86; 24.12.86; 27.-30.12.86; TA, 10.11.86; vgl. SPJ, 1984, S. 167.
[19] Interkommunion: Presse vom 5.9.86 und 5.12.86; BaZ, 6.9.86; 27.9.86; 29.12.86; NZZ, 23.9.86; 24.9.86; 6.10.86; 15.10.86; Vat., 23.9.86; SZ, 4.10.86.
[20] Lugano: Presse vom 9.6.86; SZ, 21.6.86; Ww, 30, 24.7.86; W. Spieler, «Zeichen der Zeit. Schweizer Bischöfe auf Restaurationskurs», in Neue Wege, 80/1986, S. 310 ff. Anders als in den Bistümern Basel und St. Gallen hat der Papst im Bistum Lugano völlig freie Wahl unter den Mitgliedern des Tessiner Klerus. Christkatholiken : BaZ, 4.3.86; 25.10.86; SZ, 7.6.86; NZZ, 9.6.86; 10.6.86; 27.10.86; Bund, 24.12.86. SEK: BaZ, 28.5.86; NZZ, 18.6.86; 24 Heures, 18.6.86.
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