Année politique Suisse 1987 : Grundlagen der Staatsordnung / Wahlen / Eidgenössische Wahlen
Die "Hoffnungswahl" wurde für jene, die eine "rot-grüne Wende" erwartet hatten, zur Enttäuschung: Der prognostizierte Stimmenzuwachs der Grünen hielt sich in Grenzen und führte nur zum Teil zu Sitzgewinnen. Zudem ging der grüne Vormarsch hauptsächlich auf Kosten der
Sozialdemokraten, die mit 41 Sitzen und einem Wähleranteil von 18,4% ihr schlechtestes Ergebnis seit 1919 erzielten. Demgegenüber behaupteten die bürgerlichen Parteien ihre Position; allerdings wurde auch ihre Stammwählerschaft kleiner. Bei der SVP wirkten die prophezeiten Verluste und der dadurch in Frage gestellte Bundesratssitz zusätzlich mobilisierend, und sie konnte sich mit zwei Mandatsgewinnen (je 1 in ZH und AG) als Wahlsiegerin feiern lassen, obwohl ihr Wähleranteil leicht zurückging. Die FDP blieb gesamtschweizerisch die stärkste Partei, gefolgt von der CVP, welche die SP überrundete
[29].
Doch auch das
bürgerliche Lager steht nicht glanzvoll da. Wie alle Parteien mit Ausnahme der Grünen, des LdU und der neu teilnehmenden Autopartei büsste es gegenüber 1983 Wähleranteile ein (CVP -0,7%, FDP -0,4%, SVP und LP je -0,1 %). Allerdings verkleinerte sich dadurch nur die Nationalratsfraktion der FDP (je -1 Sitz in ZH, SG und VD). Die Liberalen gewannen ein Mandat in Baselstadt, und bei der CVP hielten sich 5 Gewinne und 5 Verluste die Waage
[30]. Trotz grösseren Wählereinbussen konnte die CVP dabei in St. Gallen — dank Listenverbindung mit der CSP — den Freisinnigen einen Sitz abnehmen und im Jura das bisherige SP-Mandat erobern. Auch bei den Sozialdemokraten, deren Wahlbilanz mit 6 Sitzverlusten (-4,4% Wähleranteil) schloss, entsprachen die Mandatsverschiebungen nicht immer den Wählerbewegungen
[31]. In Schwyz (-6,7%) verhalf ihnen das Bündnis mit dem Kritischen Forum zu einem Sitz, während sie im Jura (+7,7%) ihr Mandat ohne Listenverbindung mit den unabhängigen Christlichsozialen nicht mehr halten konnten. Für die kleinen Parteien wiederum — und insbesondere für die Grünen — wirkte sich die grosse Anzahl kleiner Wahlkreise einmal mehr ungünstig aus. Da in kleinen Kantonen ein Drittel bis die Hälfte, in mittelgrossen 10—20% aller Stimmen für ein Mandat erforderlich sind und somit für 82 der 200 Nationalratssitze ein faktisches Quorum von mindestens 10% der Stimmen besteht, gingen sie vielerorts trotz grossen Gewinnen an Wähleranteilen leer aus
[32]. So erzielte etwa das Kritische Forum Schwyz auf Anhieb 12% der Wählerstimmen, jedoch keinen Sitz. Ahnlich erging es dem Grünen Bündnis in Luzern, Zug, Solothurn, und Graubünden sowie der Grünen Partei in Baselland. Zusammen vereinigten die Grünen zwar 9% der Wählerinnen und Wähler auf sich, gewannen aber nur 13 Sitze, während die SVP mit 11% Wähleranteil auf 25 Mandate kam.
Nach aktuellen Parteistärken betrachtet, lässt sich die politische Geographie folgendermassen charakterisieren: Der Vormarsch der Grünen setzte sich fort, und sie legten neu vor allem auch in ländlicheren Kantonen zu. Allerdings stagnierten sie mit Ausnahme von Freiburg in der Romandie und steckten in Neuenburg gar leichte Verluste ein. Die Überfremdungsparteien konnten dagegen trotz Comeback-Versuchen in einigen Kantonen das 1983 gewonnene Terrain nicht halten und verloren vor allem in ihren bisherigen Hochburgen. Ein Teil ihrer Wählerschaft dürfte zur Autopartei abgesprungen sein, welche auf Anhieb zum Teil beachtliche Wähleranteile erzielte (über 5% in TG, AG und SG). Die Wählerstärke des bürgerlichen Lagers nahm in fast allen Kantonen ab. Ins Gewicht fielen vor allem die Einbussen in Schwyz (-10,3%), Graubünden (-8,8%), St. Gallen (-6,7%), Zug (-5,5%) und Freiburg (-3,7%), in denen die Grünen und zum Teil auch die Autopartei auf dem Vormarsch waren. Grössere Wählergewinne verbuchte der Bürgerblock nur in Genf (+3,1%), wo die Vigilance fast 40% der Stimmen und damit ihren Sitz verlor. Auffällig sind ferner die Einbussen der Freisinnigen in St. Gallen und im Tessin; andererseits konnte die FDP in Schaffhausen wieder Terrain gut machen und in Obwalden auf Anhieb über 30% der Stimmen erzielen. Die Christlichdemokraten ihrerseits hatten gerade in traditionellen CVP-Hochburgen die grössten Verluste zu verzeichnen (OW, SZ, ZG, JU). In den eher ländlichen und katholischen Kantonen holte zudem das grüne und linke Lager auf. Die SVP schliesslich gewann im Aargau und in Zürich, wo sich der aufwendige Ständeratswahlkampf Christoph Blochers wenigstens in einem weiteren Nationalratsmandat auszahlte, verlor allerdings leicht im Kanton Bern.
Für die
Sozialdemokraten waren die Wählereinbussen in der deutschen Schweiz beträchtlicher als in der Romandie. Ausser in Schaffhausen, Zug und Luzern verloren sie in allen Deutschschweizer Ständen massiv (zwischen 5 und 10%), während in den welschen Kantonen der höchste Verlust 2,2% (NE) betrug und in der Waadt (+0,6%) und im Jura (+7,7%) gar Gewinne zu verzeichnen waren. Dieses unterschiedliche Abschneiden kann mit dem unterschiedlichen Auftreten der SP vor den Wahlen in Zusammenhang gebracht werden. In der deutschen Schweiz kam die Öffnung und der Identitätswandel der Partei stärker zum Ausdruck, was sich unter anderem im Eingehen von Wahlallianzen mit den Grünen zeigte. Mit der Integration der ökologischen in die soziale Thematik gelang es der SP zwar, neue Wählerschichten anzusprechen, dagegen konnte sie die traditionelle, gewerkschaftlich orientierte Wählerschaft kaum mobilisieren – wie die schlechteren Resultate der Gewerkschafter auf den SP-Listen oder gar die Abwahlen einzelner Exponenten zeigen. So wurden trotz Sitzverlusten eine Reihe von SP-Politikerinnen und Politikern des linksintellektuellen Flügels gewählt, die sich durch ihr Engagement für Umweltfragen einen Namen gemacht hatten und die nun bestandene Gewerkschaftsvertreter verdrängten
[33].
Die Sozialdemokraten hatten denn auch mit acht
nicht wiedergewählten Bisherigen am meisten unfreiwillige Rücktritte zu verkraften
[34]. Die Zürcher Gewerkschafter Albert Eggli, Otto Nauer und Walter Renschler schieden ebenso aus wie die Aargauer Max Chopard und Herbert Zehnder sowie der Schaffhauser Walter Stamm. Mit Dario Robbiani, der im Zusammenhang mit dem Tessiner Parteistreit erfolglos auf einer dissidenten Liste kandidiert hatte, verlor die SP-Fraktion gar ihren Präsidenten. Nicht mehr gewählt wurde auch die Walliserin Françoise Vannay. Dagegen gelang der Comeback-Versuch des Genfers Jean Ziegler. Beim Freisinn wurden Luciano Giudici (TI), Marcel Dubois und Pierre-David Candaux (beide VD) sowie Jean Revaclier (GE) von Parteikollegen überrundet. Auf Sitzverluste der Partei zurückgeführt werden kann das Ausscheiden der übrigen Bisherigen Hugo Wick (cvp, BS), Margrit Camenzind (cvp, TG), Barbara Gurtner (poch-gbs, BE), Valentin Oehen (öfp, BE) und Mario Soldini (vig., GE).
In mehr als der Hälfte der Wahlkreise ergaben die Wahlen bezüglich der Sitzzahlen überhaupt keine parteipolitischen Veränderungen
[35]. Insgesamt wechselten 19 der 200 Sitze die Partei
[36]. Personell erneuerte sich der Nationalrat um mehr als einen Drittel
[37]. Dabei wurde die weibliche Vertretung überdurchschnittlich aufgefrischt: Von den 29 gewählten Nationalrätinnen sind 14 neu
[38]. Auffällig war ferner eine verstärkte Tendenz weg von Parteien in Richtung "Persönlichkeitswahl". Es wurde vermehrt panaschiert, und auch die Beliebtheit der freien, parteipolitisch neutralen Listen stieg weiter an
[39]. Die vor den Wahlen präsentierten Tarife und die Wahlempfehlungen von Interessengruppen verwischten die Parteigrenzen zusätzlich.
[29] Erste Analysen: SGT, 20.10.87 (L. Neidhart); BZ, 21.10.87 (Höpflinger / Ladner); TA, 22.10.87 (R. Blum); siehe auch Lit.
[30] Je 1 Verlust in ZH, SZ, BS, AG und TG; je 1 Gewinn in BE, SG, TI, GE und JU. Siehe auch die Tabellen zu Sitzzahlen und Wählerprozenten.
[31] Je -2 Sitze in ZH und BE, je -1 in BL, AG, TI und JU – gegenüber je +1 in SZ und VD.
[32] Nur in sechs Kantonen (ZH, BE, SG, AG, VD und GE; zusammen 118 Sitze) braucht es weniger als I0% der Stimmen für ein Vollmandat, am wenigsten in Zürich (2,8%) und Bern (3,3%).
[33] Zur Wahlniederlage der SP siehe TA, 20.10.87 (H. Hubacher); Ww, 22.10.87; TW, 24.10.87; SoZ, 25.10.87; Vr, 28.10. und 5.11.87.
[34] Total wurden 17 Bisherige abgewählt (1983: 12; 1979: 14).
[35] Keine Parteiwechsel in 14 Kantonen, in 6 davon (UR, NW, GL, ZG, AR und Al) auch keine personellen Veränderungen.
[36] Je 4 in ZH und BE, 2 im AG und je I in SZ, BS, BL, SG, TG, TI, VD, GE und JU.
[37] Von den 151 wiederkandidierenden Bisherigen wurden 134 wiedergewählt. Da für die neuen Ständerätinnen Monika Weber (ldu, ZH) und Yvette Jaggi (sp, VD) zwei weitere Neue nachrückten, betrug die Zahl der Neuen insgesamt 68 (1983: 55; 1979: 59).
[38] Neue gewählte Nationalrätinnen nach Parteien: 6 SP, 3 CVP, 3 GPS, 1 GBS und 1 SVP. Übersicht über die gewählten Frauen nach Parteien und Kantonen: siehe Tabelle. Kommentare: TA, 21.10.87; Bund, 22.10.87; SZ, 23.10.87. Siehe auch unten (Das neue Parlament).
[39] Eine erste Analyse und Statistik der Panaschierstimmen wurde von R. Burger für Zürich publiziert (TA, 30.10.87). Zur Bilanz über Listenverbindungen und Restmandate siehe AT, 24.10.87 bzw. SZ, 12.11.87.
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