Année politique Suisse 1988 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Christlich-demokratische Volkspartei (CVP)
Die CVP musste einen Nachfolger für ihren Generalsekretär Hans Peter Fagagnini suchen, welcher nach vierzehn Jahren auf diesem Posten in die Bundesverwaltung wechselte. Der Politologe Fagagnini, der als intellektueller Vordenker der CVP galt, rief bei seinem letzten Auftritt als Generalsekretär an einer Delegiertenversammlung die CVP auf, in einer Zeit schwindender Parteienbindung vermehrt zielgruppenorientiert zu arbeiten. Dazu seien allerdings klare programmatische Aussagen und ein mediengerechtes Auftreten erforderlich. Angesichts der in den letzten Jahren eingetretenen Schwächung der SP sei es gerade für die CVP wichtig geworden, innerhalb des bürgerlichen Lagers eine autonome Position einzunehmen und vermehrt Umweltsensibilität zu zeigen [11]. Zu seinem Nachfolger wählte der Parteivorstand am 6. Mai den 45jährigen Erziehungswissenschafter und Präsidenten der CVP des Kantons Schwyz, Iwan Rickenbacher. Erste Ausserungen des Neugewählten und Beurteilungen durch die Medien liessen auf weitgehende Kontinuität im CVP-Sekretariat schliessen [12].
In bezug auf ihre Parolen zu den eidgenössischen Abstimmungen unterschied sich die CVP nur bei der Koordinierten Verkehrspolitik, wo sie für Annahme plädierte, von den andern bürgerlichen Parteien. Immerhin bereiteten ihre Delegierten der Stadt-Land-Initiative und der vom CNG unterstützten Arbeitszeitinitiative des SGB eine etwas weniger deutliche Abfuhr als diejenigen der FDP und der SVP. Mehr als einen Achtel der Delegiertenstimmen vermochten die beiden Begehren aber auch in der "Partei der Mitte" nicht auf sich zu vereinigen. Eine nach der Volksabstimmung vorgenommene Umfrage ergab, dass die Haltung der Delegierten durchaus mit dem Stimmverhalten der CVP-Sympathisanten übereinstimmte: Die Initiative für die 40-Stunden-Woche erzielte in diesen Kreisen lediglich 13% Ja-Stimmen, diejenige für die Bodenrechtsreform brachte es auf 21% [13].
Die CVP vermochte ihr relativ gutes Abschneiden bei den letztjährigen Nationalratswahlen nicht zu bestätigen, sondern setzte bei den Wahlen in die Legislativen der Kantone und der grösseren Städte ihren Krebsgang fort. Wie bereits im Vorjahr verlor sie auch 1988 überall Stimmenanteile. Besonders massiv fiel der Einbruch in Schwyz aus, wo sie die absolute Mehrheit im Kantonsrat verlor, und in St. Gallen, wo die CVP sowohl bei den Kantonsratswahlen als auch bei der Erneuerung verschiedener kommunaler Legislativen stark unter dem erstmaligen Auftreten der Auto-Partei zu leiden hatte. In der Stadt St. Gallen zeigte sich, dass ein prononciert autofreundlicher Kurs für die CVP kaum ein Mittel gegen die Erfolge der Auto-Partei darstellen kann. Hier war die CVP mit zwei verbundenen Listen angetreten, wobei auf der einen die Vertreter des christlichsozialen Flügels und der Parteimitte kandidierten und auf der andern, unter dem Namen "CVP—Mittelstand und Gewerbe", Repräsentanten der "Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Gesellschaft". Der rechte, gewerbe- und automobilfreundliche Parteiflügel vermochte den Vormarsch der Auto-Partei nicht aufzuhalten und erzielte statt der angestrebten acht bloss fünf der insgesamt 18 CVP-Sitze [14].
Deutlicher als auf eidgenössischer Ebene sind bei der CVP die Flügelkämpfe jeweils auf kantonaler Ebene zu verfolgen. Die Parteirechte setzte ihre Aktivitäten zur Sammlung der konsequent bürgerlich und wirtschaftsfreundlich denkenden Parteimitglieder fort und formierte sich im Berichtsjahr nach dem Vorbild anderer Kantone auch in Zürich unter dem Namen "Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Gesellschaft" (AWG). Auf der andern Seite zeigten sich verschiedentlich Vertreter des christlichsozialen Flügels von der CVP ungenügend berücksichtigt und kündigten, wie im Thurgau, den organisatorischen Zusammenschluss als christlichsoziale Gruppe innerhalb der Partei an, oder drohten gar, wie in Uri, mit einer Trennung von der Partei [15]. In Graubünden war das Zerwürfnis so weit gediehen, dass sich eine Parteispaltung abzeichnete. Zuerst hatte die 1987 gebildete christlichsoziale Gruppe der CVP (CSP) bei Ersatzwahlen in die Regierung im nötig gewordenen zweiten Wahlgang den offiziellen CVPBewerber mit einer Gegenkandidatur bekämpft. Die Retourkutsche folgte bei der Kandidatenaufstellung für die Churer Gemeindewahlen, als die von der CSP vorgeschlagenen Personen von der CVP-Versammlung nicht berücksichtigt wurden. Die CSP trat darauf hin mit einer eigenen Liste an und vermochte der CVP rund einen Drittel der Stimmen und 2 von 5 Parlamentssitzen abzunehmen. Bis zum Jahresende kam es weder zu einer Einigung über die von der Mutterpartei gestellten Bedingungen für ein Verbleiben in der CVP noch zu einem Entscheid über den offiziellen Austritt der CSP [16].
 
[11] Delegiertenversammlung der CVP vom 13.2. in Bern (Presse vom 15.2.88). Zu Fagagninis Wirken siehe auch Bund, 25.7.88; Vat. und NZZ, 30.7.88.
[12] LNN und Vat., 7.5.88; NZZ, 9.5.88. Vgl. auch Vat., 27.11.88. sowie I. Rickenbacher, "Christliche Soziallehre und politisches Handeln", in Civilas, 43/1988, S. 295 ff.
[13] NZZ, 9.5. und 7.11.88. Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 4. Dezember 1988, Zürich 1989, S. 19 und 31.
[14] Siehe dazu oben, Teil I, Kap. 1e. Zur Stadt St. Gallen vgl. auch SGT, 16.4., 10.6. und 8.9.88 ; SZ, 7.5.88. Zur Analyse der Nationalratswahlen 1987 aus der Sicht der CVP siehe Lit. Fagagnini / Brülhart.
[15] ZH: TA, 22.4.88. TG: SGT, 25.5., 31.10. und 19.11.88. UR: LNN, 8.3.88. Zu den Richtungskämpfen der CVP auf gesamtschweizerischer Ebene siehe V. Parma, "Die Dynamik ist weg", in Bilanz, 1988, Nr. 12, S. 38 ff.
[16] BüZ, 1.9., 2.9., 5.9., 8.10., 31.10., 14.11. und 28.11.88. Siehe auch oben, Teil I, 1e (Wahlen in kantonale Regierungen).