Année politique Suisse 1988 : Allgemeine Chronik / Überblick / Jahresthemen — Faits marquants
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Der Fall Kopp
Wie kaum ein politisches Ereignis in den letzten Jahren hat der erzwungene Rücktritt der Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements das Parlament, die Parteien, die Presse und die öffentliche Meinung bewegt. Gescheitert ist die Justizministerin an der Verwicklung in die Geschäftstätigkeit ihres Mannes, damit an der mangelnden Abgrenzungsfähigkeit zwischen Amts- und Privatinteresse. Der Fall berührt grundsätzliche Aspekte.
Zunächst ist der erzwungene Rücktritt eines Mitgliedes der Landesregierung ein äusserst seltenes Ereignis. Das hängt mit der institutionellen Besonderheit zusammen, dass die Regierung als Ganzes nicht wie in parlamentarischen Demokratien vom Vertrauen wechselnder Parlamentsmehrheiten abhängt. Ihre Mitglieder werden auf feste Amtszeit gewählt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Amt bestätigt, wenn sie dies wollen. Gerade weil die Regierung für ihren politischen Erfolg oder ihre Niederlagen in der Parlaments- und Referendumsdemokratie nicht haftet, spielt die persönlich-individuelle Glaubwürdigkeit und Amtsfähigkeit ihrer Mitglieder eine wichtige Rolle. Insoweit, als einzelne Parteien ihre Regierungsmitglieder hinter den Kulissen zu einem. vorzeitigen Abgang drängten, ist der Fall nicht einzigartig. Neu ist indessen ein Rücktritt aufgrund einer politischen Affäre und eines öffentlichen Vertrauenszerfalls, bei welchen der Druck der Medien eine zentrale Rolle spielte, dem die Parteien, die Fraktionen und das Parlament erst nachfolgten.
Der Vertrauensverlust, den die schweizerischen Institutionen erlitten, dürfte so leicht nicht wettzumachen sein. Darüber hinaus reicht die mangelnde Abgrenzung zwischen privaten und öffentlichen Interessen weit über den persönlichen Fall des Ehepaars Kopp hinaus. Sie spiegelt eigentliche Schwächen des schweizerischen Politiksystems, denn die schweizerische politische Kultur lebt geradezu von der Verbindung privater und öffentlicher Interessen. Im Milizsystem – von der Gemeinde bis zu den Eidgenössischen Räten – stellen Bürgerinnen und Bürger ihre persönlichen Fähigkeiten und mithin ihre sozialen Beziehungen in den Dienst des öffentlichen Amts. Verbandsstaat sowie private Organisationen mit öffentlichen Aufgaben sorgen für eine intensive Verflechtung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Solche Verflechtúngen haben durchaus Vorteile, sind bis zu einem gewissen Grad auch unverzichtbar in unserer Kleingesellschaft, im Wirtschafts- und Sozialstaat. Die Kehrseite davon, die Verfilzung, die Machtkonzentration, die Arrangements zu Lasten Dritter, ist nun freilich in den Augen von Staatsrechtlern, Ökonomen und Politologen ein ebenso altes wie ungelöstes Problem.
Politiker haben darum guten Grund, der besseren Abgrenzung öffentlicher und privater Interessen vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken. Wo das Milizsystem unersetzbar ist, stellt sich die Frage moralischer Integrität, die Frage einer "öffentlichen Moral" seiner Träger und der Fortsetzung einer politischen Kultur des Gemeinsinns in aller Schärfe. Die neue Ideologie des ökonomischen Egoismus und persönlichen Individualismus' dürfte dafür nicht die idealste Voraussetzung bilden. Beim Bund, wo im Zusammenhang mit der Affäre Kopp die zahlreichen, zum Teil lukrativen Verwaltungsratsmandate der Parlamentarier ins Blickfeld öffentlicher Kritik rückten, wird die Transparenz von Leistung und Gegenleistung zu diskutieren sein. Nun sind Fragen vermehrter Offenlegung der Interessenbindungen, der Ausstandspflicht oder der Unvereinbarkeit gewisser Tätigkeiten von Parlamentariern politisch gewiss kontrovers. Zu hoffen ist aber, dass juristische und politologische Stimmen wie diejenigen Eichenbergers, Hubers, Imbodens oder Gruners, die bereits vor 20 und 30 Jahren Interessenentflechtungen und eine professionellere Ausstattung des Parlaments verlangten, künftig nicht gänzlich ungehört bleiben.
Das Volk hat – trotz der Einrichtungen der direkten Demokratie – auf die Zusammensetzung und Wahl der Landesregierung keinen Einfluss. Es erstaunt darum nicht, wenn gerade mit dem absehbaren Verlust des einzigen "Frauensitzes" der Ruf nach der Volkswahl des Bundesrates wieder einmal ertönte. Verständlich aber auch das geringe Echo: die Schweiz als Wahlkreis existiert bisher nicht (Zürcher wählen nur Zürcher, Walliser nur Walliser Nationalräte). Die Einführung der Volkswahl wäre daher ein Experiment, das mit der Volkswahl der Kantonsregierungen nicht vergleichbar ist. Vor allem aber liesse sich kaum eine "gerechte" Vertretung der Landesteile zusammen mit einer proportionalen Zusammensetzung der Regierung nach Parteistärke realisieren.
Will man am Konkordanzsystem festhalten, so ist allerdings Sorge zu tragen, dass das heutige Wahlverfahren der Regierung mitsamt der "Zauberformel" ausserhalb des Parlaments nicht auf wachsendes Unverständnis stösst. Der heutige Modus kann als Kumulierung von Quoten begriffen werden, die entweder verfassungsrechtlich bestimmt (nur ein Vertreter pro Kanton) oder politisch festgesetzt sind (zwei Sitze für Romands und Tessiner, Zauberformel, Ansprüche Zürichs, Berns und der Waadt mit parteipolitischer Ausrichtung für Freisinn und SVP). Diese historisch bedeutungsvollen Quotierungen waren alle äusserst erfolgreich. Sie haben aber heute ihren Sinn zum Teil verloren, während sie umgekehrt nicht nur in der Kopp-Nachfolge, sondern auch künftig den Frauen den Eintritt in die Landesregierung erschweren können. Gerade die Reaktion auf den Verlust des einzigen Frauensitzes im Bundesrat hat indessen gezeigt, dass die (proportionale) Vertretung der Frau in politischen Gremien zu einem wichtigen Anliegen im Zeichen der Frauen-Gleichstellung geworden ist. Die Ersetzung einiger historisch obsoleter Quoten durch eine Frauenquote für den Bundesrat liegt zwar tealpolitisch kaum in Griffnähe. Sie wäre aber ein Gradmesser dafür, wie weit sich mit den politischen Institutionen nicht nur errungene Positionen verteidigen lassen, sondern sie auch Vorgriffe auf die Chancengleichheit – hier in der tiefgreifenden Umwandlung der Frauen- und Männerrollen in unserer Gesellschaft – erlauben.