Année politique Suisse 1988 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
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Verrechtlichung und Deregulierung
Die neoliberale Bewegung der 80er Jahre in den angelsächsischen Ländern hatte auch in der Schweiz eine Parallele, welcher die Freisinnig Demokratische Partei mit ihrer 1979 lancierten Parole "Mehr Freiheit und Selbstverantwortung - weniger Staat" Ausdruck verlieh. Der meist auf die Fassung "Mehr Freiheit - weniger Staat" verkürzte Slogan hatte in der Folge zu öffentlichen Diskussionen geführt, die nun in zwei Publikationen einen Niederschlag fanden. Die weniger als Synthese denn als Auslegeordnung der vorhandenen Meinungen aufzufassenden Texte dokumentieren einerseits weit auseinanderliegende, unversöhnliche Standpunkte, andererseits aber auch gewisse Lernprozesse, die in diesem Jahrzehnt stattgefunden haben. Geblieben ist auf liberaler Seite die Abneigung gegen einen als übermächtig, allgegenwärtig und aktivistisch empfundenen "Vormundstaat" und gegen eine zunehmende Regelungsdichte, welche die regulativen Kräfte des Marktes behindern und lähmen soll. Gefordert wird insbesondere die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Dienste in den Bereichen Verkehr, Energie, Telekommunikation, elek tronische Medien, Gesundheitswesen, Landwirtschaft und im Versicherungswesen. Lernprozesse drückten sich dagegen in der Einsicht aus, dass die Unternehmer selber mit Kartell- und Verbandsabsprachen eine hohe Regelungsdichte erzeugt und dadurch den Markt teilweise ausser Kraft gesetzt haben, was nun wieder rückgängig zu machen sei. Ausserdem empfanden auch Verteidiger der Deregulierung den liberalanarchistischen, staatsfeindlichen Hang dieser Bestrebungen als gefährlich, könnte er doch die ohnehin vorhandene Staatsverdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger und deren Rückzug ins Private unter Aufgabe des Gemeinsinns noch unterstützen.
Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums wird im Gegenteil gerade ein Ausbau der Staatsmacht gefordert. Hier geht man davon aus, dass die technische Zivilisation die Möglichkeiten des Handelns ständig erweitert, und dass dadurch die Verrechtlichung, also die explizite Normierung des Handelns, zwangsläufig weiter fortschreiten wird. Der Staat sollte jedoch nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt des guten Funktionierens, sondern vermehrt mit Blick auf seine Aufgaben zur Verwirklichung grundlegender Werte betrachtet und legitimiert werden. Er sollte also vorausschauend politisch formulierten Zielen – zum Beispiel der Ökologie – zum Durchbruch verhelfen. Eine solche Weiterentwicklung des Sozialstaates, dem vorgeworfen wird, dass er sich auf das Lindern von Fehlentwicklungen beschränkt, wäre ein ökologischer Staat, der Fehlentwicklungen gar nicht erst entstehen liesse. Vertreter dieser Richtung fassen längerfristig eine Totalrevision der Bundesverfassung ins Auge, worin dann solche Ziele enthalten wären. Sie sehen die Zeit dazu allerdings noch nicht als reif an, auch wenn sie einen Wertewandel oder einen Paradigmenwechsel diagnostizieren, von dem sie glauben, dass er in ihrem Sinne mehrheitsfähig werde [1].
 
[1] Siehe Lit. Holzhey / Kohler und Schwarz; dazu auch WoZ, 19.2.88; NZZ, 24.3. und 28.4.88.