Année politique Suisse 1988 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
Vor allem Enttäuschung, Wut und Bitterkeit spiegeln sich in Texten von Schweizer
Schriftstellern, die sich mit der "
real existierenden Demokratie" auseinandersetzten. Anlass zu diesem Unterfangen bildete eine Aufforderung der Zeitschrift "Einspruch", auf einen Text von Max Frisch zu antworten, worin dieser beklagt, die Demokratie sei zur Diktatur einer gegängelten Mehrheit verkommen. Nach Ansicht mehrerer Autoren werden in der Schweiz notwendige Reformen ständig verhindert, da eine von Unternehmerinteressen dominierte Oligarchie die Demokratie überlagert habe. Das Konkordanzsystem, das einer kleinen Minderheit die Chance genommen habe, je zur Mehrheit zu werden, und die Stimmabstinenz werden als weitere Gründe gesehen, weshalb die Legitimität des Mehrheitsprinzips abnehme und ein immer grösserer Graben die Mehrheit von der Minderheit trenne. Während diese Befunde bei den einen Gefühle der Machtlosigkeit und Resignation wecken, fordern andere eine neue Demokratisierung des politischen Systems, also ein Zurückdrängen der etablierten Machtträger zugunsten einer vermehrten Beteiligung des Volkes an der Politik. Wieder andere machen darauf aufmerksam, dass die Demokratie mit ihrem Mehrheitsprinzip nicht unbedingt weise Entschlüsse anstrebe, sondern solche, deren Konsequenzen von einer Mehrheit akzeptiert, verantwortet und entsprechend auch ausgehalten würden. Folglich sei auch nicht die Hoffnung, sondern das Leiden an der Politik das existentielle Fundament der Demokratie
[3].
Dass die schweizerische Staatsform, wie auch die Staatsformen der übrigen westlichen Industrieländer, fälschlicherweise als Demokratie bezeichnet werde, legte der Politologe A. Riklin anhand einer Darstellung der historischen Demokratietheorien seit Aristoteles dar. Er kommt zum Schluss, dass es sich bei den westlichen Systemen vielmehr um Mischverfassungen mit demokratischen, oligokratischen und plutokratischen Elementen handle und zeigt dies anhand von vier Bereichen des politischen Systems. Erstens sei das Volk nicht alleiniger Entscheidungsträger, sondern teile seine Souveränität mit Parlament, Regierung, Verwaltung und Justiz. Zweitens sei die von der Theorie postulierte Gewaltenteilung in der Praxis nicht verwirklicht, hätten doch Parlament, Regierung und Gericht sowohl legislative als auch judikative Kompetenzen. Drittens seien die einzelnen sozialen Gruppen nicht gemäss ihrem wirklichen Gewicht in den staatlichen Institutionen vertreten, sondern würden da von Parteien und Verbänden verdrängt. Und viertens bildeten Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat eine Mischung mit einem labilen Gleichgewicht, bei dem sich die einzelnen Elemente nicht nur gegenseitig ergänzten, sondern auch behinderten. Für Riklin ist diese Diagnose allerdings kein Grund, demokratische Reformen zu fordern, sondern er empfiehlt, den täuschenden und falsche Hoffnungen weckenden Ausdruck Demokratie für unser System nicht mehr anzuwenden; er sieht in der Mischverfassung ein sinnvolles Staatsideal
[4].
[3] Einspruch, 2/1988, Nr. 11 zum Thema "Demokratie - ein Traum?" (dazu WoZ, 18.11.88). Vgl. auch Lit. Saner (dazu BZ, 16.11.88; WoZ, 18.11.88) und Lit. Künzli / Thomei (dazu Ww, 27.10.88). Siehe ferner R. Straumann, "Der Demokratie droht die Selbstzerstörung", in BaZ, 10.9.88; E.A. Kägi, "Von der Eigendynamik der direkten Demokratie", in NZZ, 24.9.88.
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