Année politique Suisse 1988 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Das Verhältnis zwischen den Sprachregionen
Massnahmen zur Förderung und Stärkung sprachlicher Minderheiten stossen in der Regel weder beim Bundesrat noch in der Bundesversammlung auf grosse Widerstände, da hier das entsprechende Problembewusstsein vorhanden ist. Mit umso grösserer Spannung erwartete man nun 1988 das Resultat der Volksabstimmung über die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts auf das 5. Schuljahr, welche im bevölkerungsreichsten Kanton Zürich durchgeführt wurde. Wenn auch nicht der Französischunterricht an sich, sondern lediglich der Zeitpunkt für dessen Erteilung zur Diskussion stand, reagierte insbesondere die Westschweiz empfindlich auf das Volksbegehren. In Genf wurde — als Drohgebärde — eine Initiative angekündigt, welche im Sprachunterricht die Begünstigung des Englischen zulasten des Deutschen verlangte, und im jurassischen Kantonsparlament zielte ein Vorstoss auf die Sistierung des Deutschunterrichts an den Primarschulen, solange die Deutschschweizer Kantone das "Frühfranzösisch " nicht einführten. Tatsächlich betrachteten auch die zögernden deutschschweizerischen Kantone die Zürcher Abstimmung als Signal, und mit entsprechender Erleichterung wurde denn auch allenthalben die deutliche Ablehnung der Initiative, welche eine Zustimmung zum Anliegen bedeutete, aufgenommen. Auch der Kanton Thurgau lehnte im Herbst eine analoge Initiative ab [18].
Ganz ohne Widerstand passieren sprachpolitische Anliegen jedoch auch im Parlament nicht immer. So verweigerten bei der Behandlung der Regierungsrichtlinien 1987–91 Westschweizer Ständeräte ihre Zustimmung zur Absicht, in dieser Legislaturperiode eine Neufassung des Sprachenartikels in der Bundesverfassung zur Abstimmung zu bringen. Obwohl eine entsprechende Motion der Bündner Nationalräte, welche eine Stärkung des Rätoromanischen verlangt, 1985 überwiesen worden war, betrachteten die erwähnten Ständeräte nun die Mundartwelle in der Deutschschweiz als weit gravierenderes Sprachproblem und eine Teilrevision der Bundesverfassung als übertriebenen Aufwand. Mit 30:10 Stimmen wurde ihr Streichungsantrag abgelehnt [19]. Der Bericht der Expertenkommission, die einen neuen Sprachenartikel vorschlagen soll, verzögerte sich indessen, da ihr insbesondere die Suche nach einer angemessenen Berücksichtigung des Territorialprinzips Schwierigkeiten bereitet. Der Einsicht, dass ein abgegrenztes Sprachgebiet die Grundlage für den Erhalt des Rätoromanischen wäre, steht das Prinzip der Gemeindeautonomie entgegen, das möglichst nicht angetastet werden sollte [20].
50 Jahre nach der Annahme des Verfassungsartikels, der das Rätoromanische als vierte Nationalsprache definiert, wurden insgesamt recht positive Bilanzen gezogen. Bei einer relativen Abnahme auf 0,8% ist die absolute Zahl der Romanischsprachigen in diesem halben Jahrhundert mit gut 50 000 immerhin ungefähr gleich geblieben, und die Anstrengungen, diese Sprache zu stützen, haben keineswegs abgenommen. Eine Untersuchung ergab auch, dass das neugeschaffene Rumantsch Grischun, welches als einheitliche Schriftsprache die fünf Idiome ergänzen soll, recht gut aufgenommen wurde. Seit 1988 werden zudem auf der vierten UKW-Frequenz von Radio DRS während täglich sechs Stunden rätoromanische Sendungen ausgestrahlt; ein Projekt, die verschiedenen, mehrmals wöchentlich erscheinenden rätoromanischen Zeitungen als Tageszeitung mit einem gemeinsamen Mantel herauszugeben, scheiterte jedoch vorläufig am Widerstand der Verleger, welche ein solches Risiko nicht eingehen wollten [21].
Dem im Ständerat angesprochenen Problem der Mundartwelle in der Deutschschweiz wurde auf unterschiedliche Weise begegnet. In der Westschweiz scheint sich die Uberzeugung durchgesetzt zu haben, dass ohne Kenntnisse der Mundart in der Deutschschweiz keine Geschäfte zu machen seien, und so fanden entsprechende Sprachkurse regen Zuspruch. Eine allgemeine Skepsis gegenüber der Dialektwelle scheint jedoch zu überwiegen. Um Verständigungsschwierigkeiten mit den Romands zu lindern, aber auch um einer Provinzialisierung der Deutschschweiz im deutschen Sprachraum entgegenzuwirken, werden deshalb meist die elektronischen Massenmedien aufgefordert, vermehrt die Hochsprache zu pflegen. Vereinzelt tauchten Stimmen auf, die in der gegenseitigen Annäherung und in der daraus folgenden Verflachung der Dialekte einen Kulturverlust erblicken und deshalb die vermehrte Pflege gerade der Dialekte forderten [22]. Dass sich die Deutschschweizer nicht überall in der komfortablen Lage der Mehrheit befinden, empfinden vor allem die Deutschwalliser, die sich bisweilen isoliert, und die Deutschfreiburger in gemischtsprachigen Gebieten, die sich zurückgesetzt vorkommen. In Freiburg wurde ein neuer Sprachenartikel in die Vernehmlassung geschickt [23].
 
[18] Vgl. dazu oben, Teil I, 8a (Ecoles obligatoires) und unten, Teil II, 6a.
[19] Amtl. Bull. SIR, 1988, S. 313; JdG, 18.1.88; BüZ, 8.6. und 21.6.88; BaZ, 25.6.88. Vgl. M. Rossinelli, "Territorialité, liberté de la langue et protection des minorités linguistiques nationales en Suisse", in Le Pays de Fribourg, no. 8, juillet 1988; L'Hebdo, 28.7.88. Siehe auch SPJ 1985, S. 180.
[20] BüZ, 13.8.88.
[21] Zum 50. Jahrestag: JdG, 16.2.88; Lib. und 24 Heures, 17.2.88; BüZ, 18.2.88; Presse vom 19.2.88; NZZ, 20.2.88. Rumantsch Grischun: TA und BüZ, 13.2.88. Radio: BüZ, 28.4.88. Zeitungen: BüZ, 21.6., 11.8., 13.8. und 31.8.88; TA, 12.8.88.
[22] Zum Verhältnis zwischen Hochsprache und Dialekt fand ein Seminar der Nationalen Schweizerischen Unesco-Kommission statt: BaZ, 9.5.88; TA und NZZ, 13.5.88. Nachfrage nach "Schwyzertütsch"-Kursen mit Diplom der Westschweizer Handelskammern: NZZ, 19.7.88. Forderungen an die Medien: NZZ, 22.7.88; FAN, 28.7.88. Die Neue Helvetische Gesellschaft übernahm das Patronat über eine Forschung zum Thema "Dialektwelle": NHG Mitteilungen, 75/1988, Nr. 1, 2 und 3.
[23] Zur Isolation der Oberwalliser vgl. Serie in Lib., 6.8. und 8.–10.8.88. Freiburg: Lib., 10.2.88; Vat., 16.4.88; TA, 14.4.88; Lib., 2.12.88. Zur spezifisch tessinerischen Sicht des Sprachenproblems: CdT, 20. L und 23.3.88; zum Verhältnis zwischen Tessin und Westschweiz ein Interview mit BR F. Cotti in L'Hebdo, 18.8.88; zum Verhältnis zur deutschen Schweiz aus welscher Sicht vgl. Artikelfolge in NZZ, 23.11., 7.12. und 13.12.88. Zur Untervertretung der Romands in Spitzenpositionen der Verwaltung und der Armee: Suisse, 2.4.88; 24 Heures und Lib., 5.4.88; BaZ, 6.4.88; NZZ, 23.6. und 22.9.88; L'Hebdo, 7.4.88 (Interview mit BR A. Koller) Vgl. auch Lit. Cotti.