Année politique Suisse 1989 : Allgemeine Chronik / Überblick / Jahresthemen — Faits marquants
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Staatsschutz
"Staatsschutz ist ein sehr schwieriges Thema. Staatsschutz macht aber vor allem jeder Demokratie schwer zu schaffen. Die Diktaturen und Polizeistaaten haben es hier bedeutend leichter. Wo der Staat ex officio und vom System her keine Grund-, Freiheits- und Persönlichkeitsrechte garantiert, kann er durch eigenes Handeln auch keine solchen Grund- und Freiheitsrechte verletzen. Die Demokratie hingegen muss hier sehr sorgfältig und subtil gegenseitige, sich widersprechende Interessen abwägen. Nicht jede gegen den bestehenden Staat gerichtete Tätigkeit ist an sich verboten. Im Gegenteil: Die Demokratie ist geradezu auf Auseinandersetzung, auf Denkanstösse und auf den Geist der Veränderung angewiesen. Sie setzt per definitionem die Freiheit des Bürgers voraus; sie setzt insbesondere die Denkfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Meinungsäusserungsfreiheit des Bürgers voraus. Jeder Bürger darf z.B. mit unseren Institutionen, unseren Politikern und sogar mit unseren Bundesräten unzufrieden sein, und jeder darf einen anderen Staat, andere Institutionen, andere Parlamentarier und sogar andere Bundesräte herbeiwünschen. Erst wenn Gewalt und rechtswidrige Mittel eingesetzt werden, darf im demokratischen Staatswesen der Staatsschutz einsetzen. Es täte uns gut, diese Grundregeln des demokratischen Staatsschutzes zu bedenken, denn wir könnten sonst vielleicht schon morgen die eigentlichen Opfer eines falsch verstandenen Staatsschutzes sein." (Julius Binder (cvp, AG) in der Staatsschutzdebatte im Nationalrat vom 21. Juni 1973, Amtl. Bull. NR, 1973, S. 843).
Die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) war anfangs Jahr vom Parlament eingesetzt worden, um die Umstände, welche zum Rücktritt von Bundesrätin Kopp geführt hatten, zu erhellen. Da die geschäftlichen Beziehungen ihres Ehemannes zu Vermutungen über fahrlässige oder gar absichtliche Unterlassungen des Justizdepartementes bei der Verfolgung der Drogenkriminalität geführt hatten, erhielt die Kommission auch den Auftrag, diese Verdächtigungen abzuklären. In ihrem im November veröffentlichten Bericht kam die PUK zum Schluss, dass die Bundesbehörden nicht durch das organisierte Verbrechen unterwandert sind. Allerdings könne man auch nicht behaupten, dass die Verantwortlichen grossen Eifer bei der Aufklärung der Finanztransaktionen, welche der internationale Drogenhandel zwecks Spurenverwischung über den schweizerischen Finanzmarkt abwickelt, an den Tag gelegt hätten. Um so grösser sei hingegen der Einsatz der Bundesanwaltschaft und der ihr unterstellten Bundespolizei im Bereich des Staatsschutzes gewesen. Mit einer Mischung aus Akribie und Dilettantismus habe die politische Polizei nicht nur Personen observiert, die des Terrorismus oder der Spionage verdächtigt wurden, sondern auch Informationen über Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern gesammelt, die nichts anderes getan hätten, als ihre verfassungsmässigen Rechte auszuüben. Dabei habe sich das Interesse auf Personen aus dem linken politischen Spektrum (inkl. SP), aus Gewerkschaften und aus oppositionellen Bewegungen konzentriert.
Diese Vorwürfe waren nun nicht etwa neu. Wohl kaum ein Thema war seit der Gründung des Bundesstaates ein derartiger Dauerbrenner helvetischer Politik gewesen wie die politische Polizei. Ihre Gegner – ursprünglich die Katholisch-Konservativen, später die Linken und in neuester Zeit auch die diversen sozialen und politischen Bewegungen – hatten bisher nicht über die politische Macht verfügt, die es gebraucht hätte, um die Aktivitäten dieser Institution untersuchen zu lassen. Andererseits war es auch denjenigen, welche diese Institution kontrollieren – ursprünglich der Freisinn, später die bürgerlichen Regierungsparteien – nicht gelungen, die politische Polizei zu einer vom Souverän anerkannten Institution zu machen. Ihre Pläne, den sogenannten präventiven Staatsschutz auf eine gesetzliche Grundlage stellen, welche über die polizeiliche Generalklausel hinausgeht, scheiterten mehrmals am Veto des Volkes. Angesichts der alten Auseinandersetzungen um die politische Polizei bestand das Brisante des PUKBerichts nicht darin, dass er eine politische Einäugigkeit und einen undifferenzierten Sammeleifer konstatierte. Ausschlaggebend war vielmehr, dass zum erstenmal für die Öffentlichkeit anhand von konkreten Beispielen sichtbar gemacht wurde, welche Aktivitäten und welche Personen von den Behörden als potentiell staatsgefährlich vermerkt worden waren.
Die PUK warf dem Bundesanwalt und als oberster Aufsichtsbehörde auch dem Bundesrat vor, es versäumt zu haben, der politischen Polizei mit klaren Weisungen anzugeben, wer denn eigentlich den Staat mittelbar oder unmittelbar bedrohe. Der Entscheid, welche Personen registriert und in ihren politischen und privaten Tätigkeiten beobachtet werden müssen, sei weitgehend den Informationsbeschaffern an der Front, d.h. den Polizeibeamten und den privaten Zuträgern überlassen worden. Mit dieser generellen Schuldzuweisung an die politischen Instanzen wurden diese gleichzeitig von der Verantwortung für die einzelnen politischen Fehleinschätzungen, Banalitäten und Peinlichkeiten, welche sich in der Datensammlung der Bundespolizei befinden, entlastet. Wir erlauben uns freilich, hinter diese Sichtweise ein Fragezeichen zu setzen. Auch wenn es an klaren schriftlich formulierten Direktiven gefehlt haben mag, ganz so auf sich allein gestellt waren die Mitarbeiter der Nachrichtendienste des Bundes und der Kantone in ihrer Tätigkeit nicht. Zum einen hatte der Bundesrat, der ja im Gegensatz zum Parlament die Dossiers und Fichen einsehen konnte und auch in sogenannten Quartalsberichten orientiert wurde, ihre Arbeit nie beanstandet – auch die Personalaufstokkung um über 40% seit 1976 kann kaum als Misstrauensvotum interpretiert werden. Zum anderen wurde aber auch von höchster Stelle in aller Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass der Staat nicht nur durch Gewaltakte und Spionage bedroht sei, sondern auch durch übermässige Kritik an seinen Einrichtungen und den dominierenden gesellschaftlichen Werten. Bundesrat Furgler formulierte dies 1972 anlässlich einer Staatsschutzdebatte im Nationalrat folgendermassen: "Aufmerksamkeit ist auch jenen staatsgefährlichen Handlungen zu schenken, die, ohne strafbar zu sein, darauf abzielen, in unobjektiver, tendenziöser Weise unsere staatlichen Einrichtungen anzugreifen und Werte, die unser Leben und unsere Gemeinschaft massgebend bestimmen, die unserer Rechtsordnung zugrunde liegen, allmählich zu zerstören." (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1725). Dass sich die politische Polizei eher an diese Aufforderung als an die eingangs zitierten Überlegungen von Furglers Parteikollege Binder hielt, liegt auf der Hand. Folgerichtig fand denn auch ein Redaktor einer bürgerlichen Zeitung auf seiner Fiche als ersten Eintrag den Vermerk, dass er durch "fragwürdige und tendenziöse Berichterstattung" in Polizeisachen auffalle.
Die Bewältigung des politischen Skandals ist in vollem Gange. Das Parlament hat den Vorschlägen der PUK für eine gewisse Kontrolle der politischen Polizei durch die gewählten Volksvertreter zugestimmt. Der Bundesrat hat, nach einigem Zögern, Massnahmen zur Behebung der einer Demokratie unwürdigen Zustände in die Wege geleitet. Dazu gehören zum einen die Weisungen an die Nachrichtendienste des Bundes, dass die Ausübung demokratischer Rechte, wie sie die Unterzeichnung einer Volksinitiative oder die Beteiligung an einer bewilligten Demonstration darstellen, nicht mehr registriert werden darf. Zum anderen gehört dazu das Einsichtsrecht der Betroffenen in die von der Bundespolizei über sie angelegten Fichen. Sowohl die gründliche Aufklärungsarbeit und schonungslose Offenheit der nach Parteienproporz zusammengesetzten PUK wie auch das rasche Handeln der politischen Instanzen bewerten wir als positiv. Als positiv bewerten wir aber auch die manifeste Empörung von Bürgerinnen, Bürgern und Medien, welche wesentlich zur Promptheit der Reaktion der Behörden beigetragen hat. Der in diesem Zusammenhang oft verwendete Ausdruck der Staatskrise hätte dann seine volle Berechtigung gehabt, wenn die Öffentlichkeit – wie dies praktisch gleichzeitig in unserem westlichen Nachbarland geschehen ist – die Enthüllungen über die politische Polizei mit einem gleichgültigen Schulterzucken zur Kenntnis genommen hätte.