Année politique Suisse 1989 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Grundsatzfragen
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Demokratie und Skandal
Das schweizerische politische Jahr 1989 war geprägt von Skandalen und den Versuchen zu ihrer Bewältigung. Gleich zu Jahresbeginn trat Bundesrätin Kopp sofort von ihrem Amt zurück, als die volle Wahrheit über das ominöse Telefongespräch mit ihrem Mann an die Öffentlichkeit kam. Kurz darauf stellte auch Bundesanwalt Gerber sein Amt zur Verfügung. Als schliesslich im Herbst die parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) das Ausmass der von der Bundesanwaltschaft betriebenen politischen Überwachung und Bespitzelung enthüllte, sprachen nicht nur oppositionelle Politiker, sondern auch weite Teile der Bevölkerung und sogar üblicherweise betont zurückhaltende Kommentatoren von skandalösen Zuständen. Politische Skandale hatten bisher in der Schweiz – zumindest auf Bundesebene – grossen Seltenheitswert. Der Umgang mit Skandalen, ihre politische Bewältigung und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen steckt deshalb noch in den Kinderschuhen. Was die wissenschaftliche Auseinandersetzung anbetrifft, scheint allerdings das Ausland auch nicht viel weiter zu sein. In ihrem Beitrag zu einem im Berichtsjahr publizierten Sammelband zu diesem Thema konstatierten die amerikanischen Politologen Markovits und Silverstein, dass es zwar "zahlreiche Untersuchungen über Geschichte und Anatomie einzelner Skandale" gebe, dass aber "vergleichende Untersuchungen, die sich bemühen, politische Skandale im grösseren Kontext gesellschaftlicher und politischer Strukturen sowie menschlichen Verhaltens zu begreifen", weitgehend fehlten [1].
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Reflexionen zum Begriff Heimat
Im Rahmen der Diskussionen um eine schweizerische Identität, welche im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen über die 700-Jahr-Feier, über die Gedenkfeiern zur Kriegsmobilmachung von 1939 sowie über die Armeeabschaffungsinitiative geführt wurden, erhielt der Begriff der Heimat eine zentrale Stellung. Der Schriftsteller Max Frisch thematisierte die Problematik in, seinem Buch "Schweiz ohne Armee? Ein Palaver" auf literarische Weise für eine breite Öffentlichkeit [2].
Neben den Arbeiten des laufenden Forschungsprogramms NFP 21 zur "kulturellen Vielfalt und nationalen Identität" wurden auch noch andere Studien zu diesem Thema durchgeführt. So stellte der Soziologe Peter Bucher eine Untersuchung zum Heimatbild von Abschlussschülern verschiedener Gemeinden vor. Diese ergab, dass die wichtigste Komponente für die Ausformung des Heimatbildes die Schulbildung sei. Bei Personen mit geringer Schulbildung herrschte im allgemeinen ein raumorientiertes (z.B. Berge oder Kanton), bei höherer Schulbildung ein sozialorientiertes (z.B. Familie oder Freundeskreis) Heimatbild vor. Unabhängig von der Bildung war bei Mädchen die sozialorientierte Ausrichtung des Heimatbegriffs doppelt so stark ausgeprägt wie bei den Knaben. Ausserdem kam ein Unterschied zwischen Stadt und Land klar zum Ausdruck: je näher der Wohnort bei einem städtischen Zentrum liegt, desto stärker fühlen sich dessen Einwohner nicht ihrem Wohnort, sondern dieser nächstgrösseren Einheit verbunden [3].
Nachdem der Nationalrat 1988 eine parlamentarische Initiative von Markus Ruf (na, BE) für einen arbeitsfreien 1. August abgelehnt hatte, lancierte die Nationale Aktion im Frühjahr 1989 eine entsprechende Volksinitiative. Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um den schweizerischen Nationalfeiertag feierlich begehen zu können. Der Bundesrat gab noch vor dem Zustandekommen des Volksbegehrens eine Revision der diesbezüglichen Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes in die Vernehmlassung [4].
Im übrigen beantragte der Bundesrat einen Objektkredit von 13 Mio Fr. für die Errichtung eines Panoramas der Schweizer Geschichte als Aussenstelle des Landesmuseums in Schwyz. Die Vorlage wurde von National- und Ständerat prinzipiell gutgeheissen; eine Differenz in bezug auf Betriebs- oder Errichtungskosten blieb indessen bestehen [5].
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Zukunftsperspektiven
In Erfüllung eines vom Nationalrat im Vorjahr überwiesenen Postulats Ott (sp, BL), setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, welche verschiedene Szenarien zur Entwicklung der Schweiz nach dem Jahre 2000 erarbeiten soll. Diese Expertenkommission "Schweiz morgen" vereinigt 16 Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft unter dem Vorsitz von Christian Lutz, Direktor des Gottlieb Duttweiler-Instituts in Rüschlikon. Die Szenarien sollen mögliche Entwicklungen der Schweiz im kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich nach der Jahrtausendwende aufzeigen. Im weitern erhofft sich der Bundesrat von dieser Studie, deren erste Ergebnisse für 1991 erwartet werden, Entscheidungsgrundlagen und einen Beitrag zur Diskussion über die Beziehungen zur EG. Die Kommission kann bei ihrer Arbeit an den Bericht einer früheren Expertenkommission, "Qualitatives Wachstum", anknüpfen [6].
Zukunftsvisionen werden aber auch auf regionaler Ebene erarbeitet: Das Basler Regio-Forum veranstaltete zum zweiten Mal eine Plattform zum Thema Gestaltbarkeit der Zukunft im Dreiländereck. Die Idee eines solchen Forums war nach der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle, welche die Gefahren des Lebens in der Risikogesellschaft deutlich hatte ins Bewusstsein treten lassen, entstanden. Träger des Projekts waren die "Christoph Merian Stiftung", der Verein "Regio Basiliensis" und die Universität Basel. Im Gegensatz zum ersten Podium von 1988 fand dieses Jahr die breite Öffentlichkeit Zugang zu den Veranstaltungen. Als Resultat aus den zwei Foren und den drei Szenarien ("Die grosse Ruhe", "Der kleine Aufbruch", "Ein anderer Einstieg") lagen am Schluss etwa 40 Projektideen vor, so etwa das "Regionale Zukunftsparlament", das "Regio-Zukunftshaus", der "Innovationsrisikofonds" oder der "Verein für Wohntausch" [7].
Im Kanton Bern erstellten drei Professoren der Universität Bern im Auftrag der Staatskanzlei als Ergänzung zu den offiziellen Regierungsrichtlinien ein Gutachten zur Entwicklungspolitik des Kantons im nächsten Jahrzehnt. Der Bericht "Bern 2000" legte die Rahmenbedingungen und Entwicklungsvoraussetzungen in den Bereichen Wirtschaft, Umweltschutz, Gesellschaft und Politik dar, zeigte die Stärken und die Schwächen des Kantons auf und schlug Handlungsmöglichkeiten in bezug auf die zukünftigen Herausforderungen vor. Dieser Expertenarbeit wurde in ihrer Art Pioniercharakter für die kantonale Entwicklungspolitik zugesprochen [8].
Unter dem Namen "Agir pour demain" ist am 1. Dezember in Bern eine neue überparteiliche Organisation gegründet worden. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich verschiedene "grüne" und progressive Freisinnige wie Gilles Petitpierre (GE), Lili Nabholz (ZH) und René Rhinow (BS); auch die CVP war vertreten mit Judith Stamm (LU), Rosemarie Simmen (SO) und Fulvio Caccia (TI). Von sozialdemokratischer Seite machten Otto Piller (FR), Yvette Jaggi (VD), Thomas Onken (TG) und René Longet (GE) mit. Ein SVP-Vertreter, Ulrich Zimmerli (BE), und Verena Grendelmeier (ZH) vom Landesring ergänzten die Liste der eidgenössischen Parlamentarier, auf welcher hingegen Vertreter der Grünen Partei fehlen. Daneben finden sich unter den gut fünfzig Gründungsmitgliedern Personen aus Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche und Kultur. Die neue Gruppierung setzte sich zum Ziel, den zum Teil abhanden gekommenen Gemeinschaftssinn der Bürgerinnen und Bürger wieder zu beleben und die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung der grossen Zukunftsprobleme zu fördern. Zu diesem Zweck will sie verantwortungsbewusstes, solidarisches und zukunftsorientiertes Handeln propagieren und den Dialog zwischen Interessengruppen, aber namentlich auch zwischen den Generationen, stärken [9].
 
[1] A. S. Markovits / M. Silverstein, "Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien", in Ebbighausen / Necket (siehe Lit.), S. 151 ff. (Zitat S. 151). Vgl. auch P. Ziegler, "Skandal und Heuchelei" in BaZ, 18.2.89 und T. Lienhard, "Skandalbewältigung nach Schema F", in TA, 5.12.89. Zu den Skandalen selbst siehe unten, Teil I, 1b (Öffentliche Ordnung) und 1c (Regierung, Verwaltung und Parlament).
[2] M. Frisch, Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, Zürich 1989. Vgl. dazu u.a. R. Reich, "Schweiz ohne Volk", in Schweizer Monatshefte, 69/ 1989, S. 659 f. Siehe auch unten, 700-Jahr-Feier sowie Teil I, 3 (Défense nationale et société).
[3] LNN, 1.8.89. Zum NFP 21 siehe SPJ 1988, S. 20.
[4] BBl, 1989, 1, S. 1343 ff.; Blick, 18.4.89. Zur Vernehmlassung siehe unten, Teil I, 7a (Arbeitszeit).
[5] BBl, 1989, III, S. 857 ff.; Amtl. Bull. StR, 1989, S. 786 ff.; Amtl. Bull. NR, 1989, S. 2107 ff.; Vat., 12.9.89; NZZ, 7.9., 12.9., 13.12. und 14.12.89; vgl. auch unten Teil I, 8b (Kultur).
[6] NZZ, 26.5.89; SZ, 27.5.89. Zu den Protesten von Nationalrätinnen gegen die Zusammensetzung dieser Kommission siehe unten, Teil I, 7d (Stellung der Frau). Zum Bericht "Qualitatives Wachstum" siehe SPJ 1986, S. 64 f.
[7] Ww, 8.6.89; BaZ, 15.6. und 4.9.89; NZZ, 5.9.89; vgl. Lit. Arras / Bierter.
[8] Vgl. Lit. Linder / Messerli / Stephan.
[9] Presse vom 2.12.89; Ww, 7.12.89.