Année politique Suisse 1989 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Nationalbewusstsein
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700-Jahr-Feier
Nach Ablauf der Referendumsfrist gegen den 1988 erfolgten Bundesbeschluss über die Gestaltung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft informierte der Delegierte des Bundesrates Marco Solari in einer Medienkonferenz zum Stand der Planung. Insgesamt strebe das Fest neben Geschichts- und Kulturpflege, Förderung der Solidarität und der Weltoffenheit auch die Skizzierung von Zukunftsperspektiven der Schweiz in der Welt an. An einer späteren Orientierung gab Solari bekannt, dass geplant sei, die offizielle Eröffnungszeremonie am 10. Januar 1991 in Bellinzona durchzuführen [18]. Die im Vorjahr ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft "Aktion Begegnung 91 (AB 91)" erfreute sich des Zuspruchs von breiten Bevölkerungskreisen, vertreten durch eine Vielzahl von Verbänden und Institutionen aus der ganzen Schweiz. Sie stellt ein Forum dar, in dem Projekte für Begegnungen über sprachliche und soziale Schranken hinweg verwirklicht werden können [19].
Die Kantonsregierungen hatten bereits 1988 in der Vernehmlassung positiv auf die neuen Pläne der Festlichkeiten reagiert; die meisten Kantone erklärten sich auch bereit, am Projekt "Weg der Schweiz" entlang des Urnersees (Teil des Vierwaldstättersees) teilzunehmen. Vorgesehen ist hier eine Darstellung des Werdeganges der Schweiz, bei welchem die Kantone weitgehend freie Hand bei der Ausgestaltung haben. Jeder Kanton kann auf der 35 Kilometer langen Wegstrecke ein Stück, das in der Länge proportional zu seiner Wohnbevölkerung ist, mitgestalten [20].
Im Kanton Jura entstand allerdings eine rege Polemik zwischen der Regierung und dem Rassemblement jurassien (RJ) über die Beteiligung an den Jubiläumsfeiern. Das RJ und ihm nahestehende Organisationen und Personen aus dem Kanton Jura und dem Berner Jura verlangten, dass der von der Kantonsregierung beantragte Kredit von 300 000 Fr. nicht für die Teilnahme an der 700-Jahr-Feier der Schweiz eingesetzt werden dürfe, sondern vielmehr für die Bemühungen um die Integration der bernisch gebliebenen Bezirke in den neuen Kanton. Schliesslich stimmte das jurassische Parlament unter Namensaufruf mit 42 zu 13 Stimmen und 5 Enthaltungen dem Kredit für die Teilnahme an der 700-Jahr-Feier zu, jedoch unter der Bedingung, bei der Gestaltung des "Wegs der Schweiz" dem Wunsch nach einer Wiedervereinigung frei Ausdruck verleihen zu können [21].
In seinem Engagement für möglichst volksnahe Feiern ging der Delegierte für die Jubiläumsfeiern wohl etwas zu weit, als er sich bereit erklärte, das Patronat einer Jassweltmeisterschaft zu übernehmen, deren Endspiel 1991 auf dem Rütli stattfinden sollte. Nachdem die Luzerner Ständerätin Josi Meier (cvp) ihrer Empörung über den geplanten Rummel auf der symbolträchtigen Wiese öffentlich Ausdruck gegeben hatte, unternahm Solari die nötigen Schritte, um die Organisatoren des Wettkampfs umzustimmen [22].
Probleme und Kritik haben die Promotoren der Jubiläumsveranstaltungen vermehrt in den Kreisen der Linken und der Kulturschaffenden angetroffen. Diese kritisierten die "CH 700" sowohl auf konzeptioneller wie auch auf inhaltlicher Ebene. Was die konzeptionelle Kritik anbelangt, so argumentierten die Gegner ähnlich wie sie dies anlässlich der Diskussionen um die "CH 91" getan hatten: Eine Jubiläumsfeier mit dazugehörigen Ausstellungen müsste elementare Bestandteile unserer Gesellschaft wie Demokratieanspruch und Föderalismus, die bisher als Idealisierungen unter mythischem Verschluss geblieben seien, ins kollektive Bewusstsein rücken und kritisch hinterfragen können. Laut den Kritikern besteht das Paradox darin, dass eine Entmythologisierung der Entstehung, der Entwicklung und des Zustandes unserer Gesellschaft nicht gleichzeitig stattfinden könne wie die staatlich gewünschte Reproduktion von Denk- und Verhaltensmustern, die auf eben diesen Mythen beruhen und somit eigentlich Staatserhaltungsfunktion hätten. Somit sei es geradewegs pervers, wenn der Staat selbst eine solche Jubiläumsveranstaltung organisiere und finanziere [23].
Die inhaltlichen Kritiken richteten sich vor allem gegen den in der Innerschweiz geplanten Festteil: Zu viel sei vorbestimmt, die Definition von Kultur und Utopie sei einseitig auf die Kultur des bürgerlichen Staates ausgerichtet. Mit der Durchführung eines militärischen Defilees und der Organisation von Flugdemonstrationen, historischen Wehrschauen und Rütliwanderungen würde bloss die Fassade eines Zusammengehörigkeitsgefühls aufgebaut. Auf der Strecke bleibe dabei jedoch die Förderung der Solidarität zwischen Männern und Frauen, Jung und Alt, Armen und Wohlhabenden, Schweizern und Ausländern [24].
Diese Fragen beschäftigten auch die in der Gruppe Olten zusammengeschlossenen Schriftsteller an ihrer Jahresversammlung. .Verschiedene Autorinnen und Autoren brachten zum Ausdruck, ihre Zunft sei während 700 Jahren ignoriert worden und sie selbst wären jetzt, wo man sie als Sprachrohr benützen wolle, nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Nach der Diskussion über einen Boykott und unterschiedliche Formen einer Teilnahme vertagte die Versammlung den Entscheid über das zu wählende Vorgehen [25],
Im Kontext der Diskussionen über die Mobilmachungsfeiern und die Armeeabschaffungsinitiative wurden die kritischen Stimmen gegenüber dem Programm der 700-Jahr-Feier immer lauter. Zusätzlich präsentierte im November die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ihren Bericht über die Affäre Kopp und die übrigen Vorkommnisse im EJPD. Die Enthüllungen dieses Berichts über die Überwachungstätigkeit der politischen Polizei bestätigte viele Kulturschaffende in ihrem Misstrauen gegenüber den schweizerischen Institutionen. Ihre Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit sank und gegen Ende Jahr machte sich bei einigen, die schon an bestimmten Projekten im Bereich Theater und Literatur zu arbeiten begonnen hatten, erste Anzeichen eines Meinungsumschwunges bemerkbar. In den verschiedenen Verbänden und Vereinigungen des Kultursektors wurden im Berichtsjahr aber noch keine prinzipiellen Entscheidungen über eine eventuelle Verweigerung der Mitarbeit an den Jubiläumsfeierlichkeiten getroffen [26].
Als einmalige Solidaritätsaktion lancierten sechs schweizerische Hilfswerke eine Petition mit dem Titel "Entwicklung braucht Entschuldung", in welcher sie den Bundesrat und das Parlament aufforderten, zum 700jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft einen Fonds mit mindestens 700 Mio Fr. zur Übernahme von Schulden der ärmeren Entwicklungsländer zu errichten. Die begünstigten Staaten hätten sich zu verpflichten, den Gegenwert der betreffenden Forderungen in Entwicklungsprojekte zu investieren [27].
 
[18] Presse vom 3.2. und 12.5.89. Zum Bundesbeschluss und zum Konzept des Jubiläums siehe SPJ 1988, S. 20.
[19] JdG, 11.4.89; Bulletin Neue Helvetische Gesellschaft, 76/1989, Nr. 2, 14 f. Zur weit fortgeschrittenen Planung des Festes der vier Kulturen in der Westschweiz siehe JdG, 28.9.89.
[20] NZZ, 12.5. und 16.5.89. Siehe auch SPJ 1988, S. 20.
[21] BaZ, 8.3.89; Dém., 9.-11.3., 15.3., 16.3., 22.3. (CVP und PSA des Berner Juras), 22.3. und 21.4.89 (Parlament). Repräsentative Umfragen bei den Stimmberechtigten ergaben unterschiedliche Resultate (Dém., 15.3. und 17.4.89).
[22] TA, 28.9. und 29.9.89; Vat., 29.9.89.
[23] Siehe dazu auch B. Crettaz, "CH-91 morte sans mythe", in Express, 17.2.89; vgl. auch Lit. Künzli.
[24] WoZ, 14.7.89; vgl. auch die Kolumne von Andreas Balmer in Bund, 22.4.89.
[25] Bund, 13.6.89; WoZ, 16.6.89; TW, 17.6.89.
[26] Vgl. unten Teil I, 1b (Öffentliche Ordnung) und 3 (Défense nationale).
[27] NZZ und JdG, 11.10.89.