Année politique Suisse 1989 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Arbeitszeit
Trotz des Scheiterns der Volksinitiative für die 40-Stunden-Woche im Dezember 1988 wollten die Gewerkschaften weiterhin an diesem Ziel festhalten, nahmen sich aber vor, dafür wieder vermehrt auf das Instrument des Gesamtarbeitsvertrages zurückzugreifen. Verschiedentlich wurden Stimmen laut, die sich fragten, ob die Gewerkschaften mit ihrer Haltung nicht an den eigenen Mitgliedern vorbeipolitisierten. Denn die deutliche Ablehnung der Initiative in der Abstimmung wurde als klares Signal dafür gewertet, dass sich die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht mehr für eine Reduzierung der Arbeitszeit mobilisieren lassen. Gefragt seien nicht kürzere Arbeitszeiten, sondern Arbeitsformen, die den gewohnten Rahmen sprengen. Die neue Zauberformel heisst Flexibilisierung der Arbeitszeit. Sie soll den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mehr Freiraum bringen und den Arbeitgebern zu einem effizienteren Einsatz der rar gewordenen "Human Resources" verhelfen [9].
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Nachtarbeitsverbot
Um Flexibilisierung der Arbeitszeit ging es auch beim Entwurf für eine Revision des Arbeitsgesetzes, den die Regierung im September in eine breite Vernehmlassung gab. Kernpunkt des bundesrätlichen Vorschlags war eine Lockerung des seit 112 Jahren für die Industrie geltenden Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots für Frauen. Nur die nächtliche Beschäftigung schwangerer Frauen oder stillender Mütter sollte weiterhin grundsätzlich verboten bleiben. Als Hauptargument dafür wurde genannt, der Verfassungsauftrag der Gleichstellung von Mann und Frau stehe im Widerspruch zu den bestehenden Sondervorschriften für Frauen. Um dem Vorwurf des Abbaus des Arbeitnehmerschutzes zuvorzukommen, wurde eine neue Schutzkategorie "Arbeitnehmer mit Familienpflichten" eingeführt, ein Zeitzuschlag für Nachtarbeit vorgesehen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit für alle Arbeitnehmer von 50 auf 45 Stunden gesenkt. Bei der Vorstellung des Entwurfs wurde darauf hingewiesen, dass die Schweiz im jetzigen Zeitpunkt diese Revision nicht beschliessen könnte, da sie an das Abkommen 89 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gebunden sei, das ein absolutes Frauen-Nachtarbeitsverbot enthält, doch wurden Meinungsänderungen bei der ILO oder eine eventuelle Kündigung des Abkommens nicht ausgeschlossen [10].
Der Vorentwurf des Bundesrates war schon Monate vor seiner offiziellen Präsentation aufs heftigste bekämpft worden. Christliche Kreise stiessen sich besonders an der Profanisierung des Sonntags. In einem vom Rat überwiesenen Postulat ersuchten die drei EVP-Nationalräte den Bundesrat, über das bereits erreichte Ausmass der Sonntagsarbeit zu berichten und Ausnahmebewilligungen nur mit äusserster Zurückhaltung zu gewähren. Der Bundesrat versprach, in der Botschaft zur Revision des Arbeitsgesetzes auf dieses Anliegen zurückzukommen. Die CVP sprach sich klar gegen eine Lockerung des Sonntagsarbeitsverbots aus, ebenso der Christliche Metallarbeiter-Verband (CMV), der. bereits im März mit dem Referendum drohte [11].
Bei den übrigen Gewerkschaften war es mehr die Lockerung bei der Nachtarbeit, die den Sturm der Entrüstung auslöste. Sie erinnerten daran, dass sie sich immer wieder für einen generellen Abbau der nachweisbar gesundheitsschädigenden Nachtarbeit eingesetzt hätten. Die Frauen, so ihre Argumentation, bedürften nach wie vor eines besonderen Schutzes, da sie oft nicht nur Arbeitnehmerinnen, sondern zusätzlich noch Hausfrau und Mutter seien. Hier werde eine formelle Gleichstellung angestrebt, die den tatsächlich bestehenden Unterschieden zwischen Mann und Frau zu wenig Rechnung trage. Zudem mute es eigenartig an, in dieser Frage die Gleichstellung auf gesetzlichem Weg verwirklichen zu wollen, während bei der Lohngleichheit nach wie vor keine echten Fortschritte erzielt würden.
Während die Arbeitgeber die Schaffung einer Schutzkategorie "Arbeitnehmer mit Familienpflichten" sogleich hart bekämpften, werteten die Gewerkschaften sie als Schritt in die richtige Richtung. Auf Widerstand stiess hingegen wieder der Vorschlag, das Gesetz in Arbeitszeitfragen ausser Kraft setzen zu können, wenn ein "repräsentativer" Arbeitnehmerverband mit einem Unternehmen in einem Gesamtarbeitsvertrag "gleichwertige" andere Bestimmungen vereinbare. Die Gewerkschaften sahen darin einen Abbau und eine Deregulierung des Arbeitnehmerschutzes und befürchteten, die bundesrätlichen Revisionsvorschläge würden mit ihrer klar wirtschaftsfreundlichen Ausrichtung die Arbeitgeber zu immer weitergehenden Forderungen ermutigen. Der SMUV und der SBG-Frauenkongress hatten bereits vor der Veröffentlichung des Vernehmlassungsentwurfs angekündigt, notfalls das Referendum ergreifen zu wollen [12].
Die Vernehmlassung zum Arbeitsgesetz wurde ebenfalls dazu benutzt, um Kantone, Parteien und interessierte Organisationen nach ihrer Meinung zu einem gesamtschweizerischen arbeitsfreien Feiertag am 1. August zu befragen, wie dies eine im April lancierte Volksinitiative der Nationalen Aktion verlangt [13].
 
[9] SGB, 1989, Nr. 1; BZ, 3.1.89; TA, 5.1.89; Lit. Hug (Arbeitsmarkt). Wie eine Statistik des Biga zeigt, ging die Arbeitszeit zwischen 1986 und 1989 um 2,3% auf durchschnittlich 42,4 Wochenstunden zurück (SGT, 16.6.89).
[10] Presse vom 14.9.89.
[11] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1156. NZZ, 25.1.89; Bund, 9.3.89; LNN, 13.3.89; TA, 18.3.89; Vat., 22.3.89.
[12] WoZ, 10.3.89; Suisse, 11.3., 22.4. (SMUV) und 11.6.89; TA, 18.3.89; LNN, 12.6.89 (SGB-Frauen); Presse vom 14.9.89; Suisse, 18.9., 19.9. und 16.11.89; VO, 21.9., 19.10 und 26.10.89; TW, 28.9.89; Vr, 11.10.89; NZZ, 12.10.89 (Arbeitgeber); SHZ, 30.11.89.
[13] BBl, 1989, I, S. 1343. Ein von NR Ruf (na, BE) in diesem Sinn eingereichtes Postulat wurde überwiesen (Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1735). Siehe dazu auch oben, Teil I, 1a (Nationalbewusstsein).