Année politique Suisse 1989 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
Nachdem der Bundesrat im Oktober 1988 beschlossen hatte, der "Beobachter"-Initiative "gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie beim Menschen" einen direkten Gegenvorschlag entgegenzustellen, verabschiedete er am 18. September die entsprechende Botschaft. Darin erklärt er sich mit dem Grundanliegen der Initianten und deren meisten konkreten Forderungen einverstanden, wollte den zukünftigen Art. 24octies der Verfassung aber umfassender und präziser formuliert wissen. So erschien es ihm problematisch, die Regelung auf den Humanbereich zu beschränken und den Begriff der Menschenwürde nur gerade im Zusammenhang mit der Gentechnologie in der Verfassung zu verankern. Er schlug deshalb einen Verfassungstext vor, der auch die Tier- und Pflanzenwelt einbezieht. Den Begriff der Menschenwürde wünschte er einer generellen Grundrechtsnorm vorzubehalten, wie sie in den Entwürfen zur Totalrevision der Bundesverfassung vorgesehen ist.
Den beiden ersten Punkten der Initiative stellte der Bundesrat einen Text entgegen, der Zielnorm und Gesetzgebungskompetenz definiert, aber keine ethische Würdigung enthält. Den Verbotskatalog in Absatz 3 der Initiative erachtete er als zu imperativ, und er meldete seine Bedenken an, die Gesetzgebung bereits auf Verfassungsstufe derart zu präjudizieren. Er schlug deshalb einen Regelungskatalog vor, der sich — gleich wie der Initiativtext — auf die Fortpflanzungsmedizin beschränkt, der aber die Frage nach eventuellen Verboten offen lässt. Dem Vorwurf, durch den Verzicht auf klare Vorgaben werde der Gesetzgebungsprozess — gerade auch in Anbetracht der zum Teil sehr unterschiedlichen Vorstellungen der verschiedenen politischen Parteien — lang und schwierig, begegnete er im voraus mit dem Hinweis auf die schon bestehende oder vorgesehene Gesetzgebung des Bundes in diesem Gebiet
[22].
Der "Beobachter" war der Ansicht, der Vorschlag lasse dem Parlament einen zu grossen Ermessensspielraum, und beschloss, seine Initiative nicht zurückzuziehen
[23]. Von Frauenseite wurde sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag mehrheitlich abgelehnt und verlangt, in der Fortpflanzungsmedizin sei der Selbstbestimmung der Frauen vermehrt Rechnung zu tragen und auf Embryonenschutzgesetze klar zu verzichten
[24].
Von den bundesrätlichen gesetzgeberischen Vorhaben war zum Zeitpunkt der Botschaft bereits ein Vorschlag zu einer Neuregelung des Patentschutzes in der Biotechnologie verabschiedet. Wie an anderer Stelle ausgeführt, soll damit insbesondere der Schutz des Verfahrenspatents auch auf die durch Vermehrung von Lebewesen entstandenen Erzeugnisse ausgedehnt werden
[25].
Aber auch
im Parlament war die Gentechnologie Gegenstand verschiedener Vorstösse. Die Standesinitiative des Kantons St. Gallen, welche den Bund einlädt, unverzüglich Vorschriften über die DNSRekombinationstechniken in Medizin, Landwirtschaft und Industrie zu erlassen, wurde von der zuständigen Nationalratskommission angenommen, welche dagegen eine parlamentarische Initiative der Basler Nationalrätin Anita Fetz (poch), die ein mindestens zehn Jahre dauerndes Moratorium im Bereich der Gentechnologie gefordert hatte, mit dem Hinweis' auf die Stellung der Schweiz in der internationalen Forschung ablehnte
[26]. Die Kommission verabschiedete dagegen zwei Postulate, mit welchen der Bundesrat aufgefordert wurde, die Risiken und Auswirkungen der Gentechnologie in allen Bereichen zu prüfen und eine pluralistisch zusammengesetzte Kommission einzusetzen, die u.a. ein Inventar über gentechnische Forschung und Anwendung zu führen hätte. Beide Postulate wurden vom Nationalrat überwiesen, während eine Motion Fetz, welche den Bundesrat 'unter anderem beauftragen wollte, die Freisetzung von gentechnisch manipulierten Lebewesen in der Schweiz zu verhindern, vom Rat – weil seit zwei Jahren hängig – abgeschrieben wurde. In der Herbstsession reichte die Solothurner Nationalrätin Ursula Ulrich (sp) eine parlamentarische Initiative ein, welche die Schaffung eines Genomanalysen-Gesetzes verlangt
[27].
In Ermangelung einer bundesrechtlichen Regelung im Bereich der Fortpflanzungsmedizin kam dem
Entscheid des Bundesgerichts, den beiden staatsrechtlichen Beschwerden gegen die restriktive Politik des Kantons St. Gallen stattzugeben, wegweisende Bedeutung zu. Das Bundesgericht bejahte zwar die Kompetenz der Kantone, bis zu einer allfälligen Bundesgesetzgebung Übergangsregelungen zu treffen. Im Inhalt waren dem Bundesgericht die St. Galler Vorschriften jedoch zu eng. Insbesondere die Beschränkung der künstlichen Insemination auf die Samen des Ehemannes widersprach nach mehrheitlicher Auffassung der Richter dem ungeschriebenen Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit, doch wollten sie die heterologe Insemination nur bei Ehepaaren, nicht aber bei Konkubinatspaaren oder alleinstehenden Frauen akzeptieren. Auch im zweiten Hauptpunkt, der Frage der In-Vitro-Fertilisation (IVF), brachte das Bundesgericht Korrekturen an der St: Galler Regelung an. Es erachtete das generelle Verbot als unverhältnismässig und als Verstoss gegen die Freiheitsrechte. Die Richter wollten es aber weiterhin den Kantonen überlassen, wieweit die IVF eingeschränkt wird und ob sowohl homologe wie heterologe Insemination erlaubt sein sollen. Das Bundesgericht erachtete zudem die Bestimmungen, die künstliche Insemination allein dem Kantonsspital vorzubehalten, das Verbot von Samenbanken, von Forschung an Keimzellen und der Anwendung neuer Verfahren zur Behandlung der menschlichen Unfruchtbarkeit als unverhältnismässig
[28]. Dieser Entscheid bewog diejenigen Kantone, die ebenfalls im Sinn gehabt hatten, in diesem Bereich regelnd einzugreifen, so etwa Basel-Stadt, Solothurn und Graubünden, ihre Arbeiten vorderhand zu sistieren
[29].
[22] BBl, 1989, III, S. 989 ff. Presse vom 19.9.89; DP, 16.11.89. Zur Haltung der Parteien siehe SPJ 1988, S. 197; SGT, 19.9.89; Presse vom 30.1.89 (Berichterstattung über die DV der FDP zum Thema Fortpflanzungsmedizin).
[24] Presse vom 14.11.89. Zur 1988 gegründeten Frauenorganisation Nogerete (siehe SPJ 1988, S. 198) gesellte sich der im Juni als Verein gegründete und mehrheitlich von Frauen getragene "Basler Appell" (Lit. Basler Appell; Emanzipation, 1989, Nr. 10, S. 8 f.).
[25] BBl, 1989, III, S. 232 ff. Für eine ausführlichere Darstellung siehe oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
[27] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1721 (Postulate); Verhandl. B.rers., 1989, IV, S. 27 (Ulrich) und 68 (Fetz).
[28] Presse vom 16.3.89; Bund, 2.10.89; NZZ, 23.11.89. Zur Vorgeschichte siehe SPJ 1988, S. 196. In seiner Botschaft zur "Beobachter"-Initiative anerkannte der BR ebenfalls die vorläufige Kompetenz der Kantone (BBl, 1989, III, S. 1010 ff.). Im Dezember hiess das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde eines Konkubinatspaares gut, dem der Waadtländer Staatsrat aufgrund von reinen Verwaltungsrichtlinien die IVF verweigert hatte (Presse vom 18.12.89).
[29] BaZ, 16.-18.3.89; BüZ, 17.3.89; SZ, 12.8.89.
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