Année politique Suisse 1989 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlinge
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Verhärtung der Fronten
Die Diskussionen rund um den Strategiebericht wurden durch die ständig steigende Zahl von Asylgesuchen überschattet: 1989 reisten 24 425 Flüchtlinge in die Schweiz ein, 46% mehr als 1988 [19]. Dieser Zustrom heizte die Kontroversen in der Beurteilung der Asylpolitik wieder kräftig an. Die NA – die von einem "Volksärgernis" sprach – beschloss, eine Volksinitiative "für eine vernünftige Asylpolitik" zu lancieren, deren noch zu bereinigender Text eine restriktive Définition des Flüchtlings, enge Vorschriften für die Vollzugsfristen und eine Plafonierung der Aufnahme enthalten soll [20].
In der Sommersession führte die Diskussion des Berichtes der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates, der den Bundesbehörden – und insbesondere dem Delegierten für das Flüchtlingswesen (DFW) – Rechtsverletzungen im Fall Maza/Musey vorwarf, zu einer hitzigen Debatte, in deren Verlauf Vertreter der SP, der Grünen und der LdU/EVP-Fraktion die Asylpolitik der Behörden und der bürgerlichen Parteien zum Teil aufs heftigste angriffen. Die CVP vertrat eine mittlere Position, während sich Parlamentarier der SVP und der FDP für ein dezidierteres Vorgehen in der Flüchtlingsfrage stark machten [21]. Im Kielwasser der von SVP-Nationalrat Blocher (ZH) präsidierten "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz" (Auns) forderte die SVP dann an ihrer Delegiertenversammlung die Anwendung der im geltenden Asylgesetz verankerten Notrechtskompetenzen. Mit ihrem Vorprellen fand sie bei den anderen grossen Parteien jedoch keine Unterstützung [22]. Die FDP ihrerseits rief nach einem dringlichen Bundesbeschluss, demzufolge für illegal eingereiste Asylbewerber ein Zulassungsverfahren eingeführt, das Beschwerdeverfahren gestrafft und die Wegweisung konsequent durchgezogen werden sollte [23].
Die Regierung mochte nicht in den Kanon derer einstimmen, welche die Anwendung des Ausnahmerechts gemäss Art. 9 des Asylgesetzes verlangten. Nach einer asylpolitischen Aussprache im Bundesrat nahm der Vorsteher des EJPD die Beratung des Geschäftsberichtes im Ständerat zum Anlass, die diesbezügliche Haltung des Gesamtbundesrates darzulegen. Nach Meinung der Exekutive sei eine eigentliche Notstandssituation nicht gegeben, führte Koller aus. Gleichzeitig kündigte er aber an, die Regierung prüfe verschiedene Massnahmen, die auf dem Dringlichkeitsweg getroffen werden müssten, um die Schweiz aus der Asyl-Vollzugskrise herauszuführen. Abschliessend rief er die Abgeordneten auf, an der Schaffung eines Konsenses mitzuarbeiten und keine überrissenen Forderungen in die eine oder andere Richtung zu stellen [24].
Im September setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein mit dem Auftrag, bis Ende Januar 1990 ein Asylverfahren zu entwickeln, das sowohl in erster als auch in zweiter Instanz eine wesentliche Beschleunigung erlauben würde. Für die Arbeiten dieser Kommission definierte er klare Zielvorgaben: zu evaluieren seien die Einführung eines Zulassungsverfahrens oder eine allfällige summarische Prüfung gewisser Beschwerden, der Entzug der aufschiebenden Wirkung bei missbräuchlichen Beschwerden, die Verkürzung von Fristen und die Einschränkung der ausserordentlichen Rechtsmittel, doch dürfe dabei an den Grundprinzipien der humanitären Asylpolitik nicht gerüttelt werden. Als Sofortmassnahmen wurden die Ausdehnung des Verfahrens 88 und eine Personalaufstockung beim DFW beschlossen; langfristig, so stellte Koller in Aussicht, müsse – gestützt auf den Strategiebericht – eine umfassende Asyl- und Ausländerpolitik entworfen werden [25].
 
[19] Presse vom 19.1.90.
[20] Presse vom 6.11.89.
[21] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 844 ff. GPK-Bericht: BBl, 1989, II, S. 545 ff.; WoZ, 24.2.89; Suisse und TW, 4.3.89; Presse vorn 15.3.89; Zur Vorgeschichte siehe SPJ 1988, S. 216 f.
[22] Interpellation Blocher: Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1205 ff.; BaZ und JdG, 20.3.89. Auns: TA, 23.5.89; BaZ und NZZ, 30.5.89; LNN, 2.6.89. DV SVP: Presse vom 21.8.89. Reaktionen der Bundesratsparteien: BZ, 5.9.89.
[23] NZZ, 12.8. und 5.9.89. Das Zulassungsverfahren würde annähernd 95% der Flüchtlinge betreffen, reisten 1989 doch nur rund 1000 über die offiziellen Grenztore ein. Zur Unmöglichkeit für viele Flüchtlinge, legal einzureisen, siehe die Ausführungen der "Asylkoordination Schweiz" (TW, 8.9.89).
[24] NZZ, 6.6.89; Amtl. Bull StR, 1989, S. 223 ff.; BaZ und NZZ, 8.6.89. Siehe auch Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1205 ff.
[25] Presse vom 14.9.89; NZZ, 11.10.89; TW, 17.11.89.