Année politique Suisse 1990 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Das bedeutendste Ereignis für die SP war der Rücktritt des Parteipräsidenten Helmut Hubacher (BS) nach 15jähriger Amtsdauer. Unter seiner Regie hatte die SP eine starke Veränderung durchgemacht und sich von einer traditionellen Arbeitnehmerpartei zu einer zwar immer noch sozialen, aber auch stark ökologisch orientierten Partei gewandelt. Diese Entwicklung war begleitet gewesen von einer Umschichtung der Anhängerschaft und von massiven Verlusten bei Wahlen [16]. Als Nachfolger wurde am Parteitag in Basel am 28. April der 38jährige Rechtsanwalt und Nationalrat Peter Bodenmann (VS) mit 634 Stimmen gewählt; seine Mitkonkurrentin, die Solothurner Nationalrätin Ursula Ulrich erreichte 269 Stimmen. Ausschlaggebend für Bodenmanns Wahl dürfte der entschiedene, kantige und wenig kompromissbereite Stil, mit dem er bisher politisiert hatte, gewesen sein. Im Gegensatz dazu hatte seine Konkurrentin eher den Ruf einer zur Konzilianz neigenden Pragmatikerin [17].
Bürgerliche Politiker mahnten im Vorfeld des Parteitags, dass im Falle einer Wahl des aggressiven und polarisierenden Bodenmanns die Konkordanzdemokratie in Gefahr gerate und dass ein Ausschluss der SP aus der Regierung denkbar würde [18]. Verstärkt wurde diese Diskussion um die Fortführung des Konkordanzsystems anlässlich der Parlamentsdebatten um militärische Bauten — insbesondere der geplante Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen erregte die Gemüter — und Rüstungsvorhaben, bei denen die SP konsequent in Opposition zu den drei anderen Bundesratsparteien stand. Auch für die CVP-Fraktion schien nun der Augenblick gekommen, in dem sich die SP entscheiden müsse, ob sie weiterhin Bundesratspartei bleiben wolle [19]. Vorgeworfen wurde der SP von den bürgerlichen Bundesratsparteien auch, dass sie als Regierungspartei nicht zu ihrer Mitverantwortung für den Fichenskandal stehe, sondern diesen propagandistisch zur eigenen Profilierung ausnutze [20].
Lokale interne parteipolitische Schwierigkeiten ergaben sich in der Stadt Zürich, wo Stadträtin Emilie Lieberherr, seit 20 Jahren Direktorin des Sozialamts, mit der Begründung mangelhafter Parteisolidarität in Sach- und Personalfragen aus der Partei ausgeschlossen wurde. Im Kanton Freiburg trat Staatsrat Denis Clerc nach langen Auseinandersetzungen aus der Partei aus; damit hat nach Félicien Morel, mit welchem Clerc allerdings ebenfalls zerstritten ist, auch der zweite auf der SP-Liste gewählte Staatsrat die Partei verlassen [21].
Die SP lancierte zusammen mit dem Gewerkschaftsbund die Volksinitiative "Für den Ausbau von AHV und IV", welche eine Festigung der ersten Säule auf Kosten der Pensionskassen vorsieht [22]. Ausserdem spannte sie mit dem LdU und der Arbeitsgruppe für eine neue Agrarpolitik (NAP) zusammen, um nach dem Scheitern der Kleinbauerninitiative gemeinsam die Volksinitiative "Bauern und Konsumenten" zu lancieren; das Begehren will mit wirtschaftlichen Anreizen eine ökologischere und tierfreundlichere Produktion von höherer Qualität und bei geringeren Überschüssen erreichen [23].
Der SP-Vorstand verabschiedete zuhanden des Parteitags vom Frühjahr 1991 ein Europa-Manifest, worin er seine Vorstellungen in bezug auf die Beteiligung der Schweiz an der europäischen Integration definiert. Darin befürwortet sie einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft, knüpft diesen aber an gewisse Bedingungen. So erwartet sie von der EG Ausnahmebestimmungen für die Schweiz in den Bereichen Verkehr, Umweltschutz und Einwanderung [24]..
Für die eidgenössischen Abstimmungen beschloss der Parteivorstand Stimmfreigabe zum Rebbaubeschluss, ein Ja zu den Volksinitiativen für die Beschränkung des Strassenbaus und ein Nein zur Anderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege. Beim zweiten Abstimmungspaket empfahl die SP die Ja-Parole zum Energieartikel und zu den beiden Atominitiativen und die Nein-Parole zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes. Bei den Strassenbauvorlagen machten allerdings die meisten französischsprachigen Kantonalparteien den ökologischen Kurs der Parteileitung nicht mit [25].
Bei den Wahlen konnte die SP im Berichtsjahr in sämtlichen Kantonen, in welchen sie schon vertreten war, ihre Position entweder halten oder ausbauen; dies gilt insbesondere für den Kanton Bern, wo sie acht Sitzgewinne verbuchen konnte. Grosse Gewinne erzielte sie auch in der Stadt Zürich, wobei sie dieses Resultat, angesichts des stagnierenden Wähleranteils, den Allianzen mit kleineren Parteien aus dem links-grünen Spektrum und dem Proporzglück verdankte. Die SP war damit auf dem besten Wege, das ihr spätestens seit den nationalen Wahlen von 1987 anhaftende Verliererimage abzulegen [26]..
 
[16] Zur Würdigung von Hubacher siehe Ww, 26.4.90; LNN, 27.4.90; BaZ, 28.4.90. sowie die Artikel in Rote Revue, 1990, Nr. 3. Zum Wandel der SP siehe H. Hirter, "Sozialdemokratie in der Wendezeit: Mit neuem Kopf in eine neue Politik?", in Ww, 26.4.90 sowie SPJ 1988, S. 319 f.
[17] Presse vom 30.4.90; L'Hebdo, 26.4.90. Zum politischen Profil siehe WoZ, 11.4. und 4.5.90. Vgl. auch Bodenmanns Gedanken zur SP und ihrer Zukunft in TW, 4.5.90 und Rote Revue, 1990, Nr. 5/6, S. 3 ff.
[18] Freie Schweizer Presseinformation (FDP-Pressedienst), Nr. 31, 25.4.90; Blick, 27.4.90. Vgl. auch den Artikel von G. F. Höpli, in dem die SPS als Trittbrett- ja sogar Schwarzfahrerin der Konkordanzdemokratie bezeichnet wird (NZZ, 5.5.90).
[19] Bund, 21.6.90; SN, 22.6.90; Vat., 23.6.90; NZZ, 28.6.90; BaZ, 30.6.90. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 3 (Constructions militaires).
[20] NZZ, 21.3.90; TA, 23.3.90.
[21] Suisse, 1.1.90; Bund und 24 Heures, 12.5.90; Ww, 24.5.90. Zu Morels Austritt siehe SPJ 1988, S. 320 sowie unten, andere Parteien.
[22] LNN und Suisse, 13.1.90; NZZ, 14.8.90. Siehe dazu oben, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).
[23] Bund, 15.3.90; Rote Revue, 1990, Nr. 5/6, S. 17 ff. Siehe dazu oben, Teil I, 4c (Politique agricole).
[24] TW, 23.11.90; NZZ, 26.11.90; Rote Revue, 1990, Nr. 7/8, S. 11 ff.
[25] NZZ und JdG, 27.3.90; NZZ, 21.9.90.
[26] Siehe oben Teil I, 1e.