Année politique Suisse 1990 : Allgemeine Chronik / Überblick / Jahresthemen — Faits marquants
Wenn auch politische Skandale in der Regel kaum erfreuliche Ereignisse sind, so haben sie doch oft auch etwas Gutes. Sie decken Schwachstellen im System auf und erhöhen die Bereitschaft, erforderliche institutionelle Reformen an die Hand zu nehmen. Das war nach dem Mirage-Skandal in den sechziger Jahren so und hat sich jetzt nach den Enthüllungen der beiden Parlamentarischen Untersuchungskommissionen (Puk) wiederholt. Der beschleunigte europäische Integrationsprozess und die Absicht der Schweiz, in irgendeiner Form daran teilzuhaben, trugen das ihrige dazu bei, dass die Notwendigkeit von Reformen nicht nur von den Beobachtern der politischen Szene, sondern auch von einer breiten Mehrheit der Akteure selbst erkannt worden ist.
Eine wichtige Erkenntnis aus den Puk-Berichten war die Feststellung, dass die parlamentarische Oberaufsicht über die Verwaltung versagt hatte. Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates hatte zwar bereits vor der Einsetzung der Puk-I ihrem Unbehagen über die Fichensammlung der Bundesanwaltschaft Ausdruck gegeben. Sie hatte sich aber mit den Auskünften der Verwaltung zufriedengegeben und war der Sache aus Mangel an Kompetenzen und Zeit nicht weiter auf den Grund gegangen. Mit der im Berichtsjahr beschlossenen Schaffung einer Fachstelle für Verwaltungskontrolle und mit der Erweiterung der Kontrollbefugnisse der Geschäftsprüfungskommissionen wurden wichtige Verbesserungen vorgenommen. Das Problem der Zeitnot der Parlamentarier bleibt allerdings ungelöst.
Der eine Aspekt der Zeitnot betrifft die Fähigkeit des Parlamentes, die anstehenden Geschäfte in nützlicher Frist zu beraten und zu verabschieden. Es ist nicht etwa so, dass es dazu überhaupt nicht fähig wäre. Die neuen Gesetze über das Verbot der Geldwäscherei bzw. von Insidergeschäften an der Börse haben gezeigt, dass die Legislative – vor allem bei entsprechendem Druck von aussen – zu einer sehr raschen Gangart fähig ist. Was hier aber noch Ausnahmen waren, könnte im Zuge der europäischen Integration bald zum Normalzustand werden. Das bis heute vorzugsweise eingesetzte Mittel der Redezeitkontingentierung dürfte sich dann als unzureichend erweisen. Die von der parlamentarischen Initiative Petitpierre/Rhinow angeregte differenzierte Behandlung von Geschäften durch die beiden Kammern, ja eventuell sogar die Beschränkung der Entscheidkompetenzen des Ständerates auf Verfassungsfragen und bestimmte Staatsverträge (analog zur Kompetenzverteilung bei Volksabstimmungen) könnten dannzumal zur Notwendigkeit werden.
Eine Analyse des parlamentarischen Entscheidungsweges politischer Geschäfte zeigt, dass die eigentliche Schwachstelle der Terminierung freilich nicht bei der Plenumsberatung, sondern bei der Vorberatung in den Kommissionen liegt. Dabei ist unbestritten, dass eine sorgfältige Vorberatung der Geschäfte wichtig ist, und damit die Plenumsdebatten und die Differenzbereinigungen wesentlich verkürzt werden können. Abträglich für die Effizienz ist es jedoch, wenn sich diese Kommissionsberatungen über Jahre erstrekken, und zwar nicht etwa weil sie besonders intensiv sind, sondern weil keine gemeinsamen Termine gefunden ' werden können.
Hier gelangen wir zum zweiten Aspekt der Zeitnot der Parlamentarier, dem Problem ihrer individuellen Verfügbarkeit für die mit ihrem Mandat verbundenen Tätigkeiten. Wenn eine Studie ergeben hat, dass bereits heute die Parlamentarier rund die Hälfte ihrer Arbeitszeit für ihr Mandat verwenden und das für einen effizienten Ratsbetrieb noch nicht ausreicht, dann gilt es diesen Tatsachen auch in bezug auf Entschädigung und Arbeitsbedingungen Rechnung zu tragen. Selbstverständlich müsste dies zur Konsequenz haben, dass die Verfügbarkeit der Parlamentarier für politische Arbeit – also zum Beispiel Kommissionssitzungen – nicht mehr hinter anderweitigen beruflichen Verpflichtungen zurückstehen darf. Das soll nicht heissen, dass einem Parlamentarier die Ausübung von weiteren Tätigkeiten verboten werden soll. Wer aber nicht bereit wäre, sich den Anforderungen, die heute an einen eidgenössischen Parlamentarier gestellt werden, zu unterziehen, könnte zwar nach wie vor gewählt werden, müsste aber unter Umständen auf die Mitarbeit in Kommissionen verzichten. Wenn diese Absicht vor den Wahlen deklariert werden müsste, könnte der Souverän an der Urne entscheiden, durch welche Art von Politikern und Politikerinnen er sich in Bern vertreten lassen will.
Dass sich die Anforderungen an die politischen Institutionen seit ihrer Schaffung vor fast 150 Jahren wesentlich verändert haben, bekommt auch die Exekutive immer drastischer zu spüren. War es in den siebziger Jahren das Aufkommen neuer Politikbereiche wie Umweltschutz und Energiepolitik, welches die sieben Bundesräte auf Trab hielt, so ist es heute der rasch voranschreitende europäische Integrationsprozess. Auch die Bundesräte leiden unter Zeitnot, ihr Problem liegt jedoch auf einer anderen Ebene als dasjenige der Parlamentarier. Sie widmen sich seit jeher vollamtlich ihrem politischen Mandat – und würden sich, nebenbei gesagt, mit Bestimmtheit gegen den Vorwurf wehren, sie hätten deshalb den Kontakt zum Volk verloren – und können sich zudem auf eine erfahrene und höchst professionell arbeitende Verwaltung stützen. Natürlich lässt sich die Effizienz des Bundesrates durch die Entlastung von weniger Wichtigem (zum Beispiel durch die Vertretung an Kommissionssitzungen durch Amtsdirektoren) weiter steigern. Die Erfordernisse der europäischen Politik machen aber immer deutlicher, dass die Zahl der Bundesräte schlicht zu klein ist. Während alle europäischen Staaten über ein grosses Regierungsensemble verfügen, muss die schweizerische Exekutive wie ein kleines Wandertheater agieren und jedem Akteur mehrere Chargen zuteilen. So ist beispielsweise der Vorsteher des EDI gezwungen, bei den immer zahlreicher werdenden europäischen Konferenzen auf Ministerebene wechselnd – und manchmal praktisch gleichzeitig an verschiedenen Orten – die Rollen des Sozialministers, des Bildungsministers, des Umweltministers und des Gesundheitsministers zu übernehmen. Bereits heute, spätestens aber bei einem Beitritt der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft sind diese Anforderungen rein physisch nicht mehr zu bewältigen.
Die vom Bundesrat im Berichtsjahr vorgelegten Reformvorschläge – namentlich die Verleihung des Titels Staatssekretär an Amtsdirektoren, welche ihn im Ausland vertreten – werden auf die Dauer nicht ausreichen. Einerseits hat auf politischer Ebene ein Staatssekretär zu geringes Prestige, um die Positionen der Schweiz überzeugend geltend zu machen. Andererseits wird in den massgeblichen Gremien der EG – und wohl auch des EWR – in Zukunft noch mehr als heute die Anwesenheit von entscheidungsberechtigten Regierungsangehörigen verlangt werden. Eine Erhöhung der Anzahl der Bundesräte auf fünfzehn oder noch mehr wird deshalb unausweichlich. Dabei ist dem jetzigen Bundesrat natürlich recht 'zu geben, wenn er argumentiert, dass ein derart vergrössertes Kabinett nicht mehr als Kollegialbehörde funktionieren könnte. Der daraus zu ziehende Schluss müsste aber nicht das Verharren beim Status-quo sein, sondern die Forderung, innerhalb des vergrösserten Bundesrates eine politische Führungsinstanz zu bezeichnen. Diese Führungsfunktion von einer einzigen Person – einem Bundesratspräsidenten – wahrnehmen zu lassen, würde freilich der schweizerischen Tradition und auch ihrer politischen Kultur diametral widersprechen. Die von Petitpierre und Rhinow stammende Anregung, die Regierung aus einem fünf- bis siebenköpfigen Leitungsgremium und zusätzlichen Ministern mit Entscheidungskompetenzen für ihre Ressorts zu bilden, könnte deshalb zu einer realistischen Option werden.
Bei all diesen Diskussionen um die Reform der politischen Institutionen gilt es sich vor Augen zu halten, dass das schweizerische politische System mit seinen ausgebauten Volksrechten nie die gesetzgeberische Effizienz eines parlamentarischen Regierungssystems wird erreichen können. Da hier praktisch jeder Entscheid schlussendlich dem Verdikt der Bürgerinnen und Bürger unterliegt – sei es durch stillschweigende Gutheissung, sei es durch eine obligatorische oder mittels Referendum verlangte Volksabstimmung – und zudem das Volk mit dem Initiativrecht politische Ziele ohne Rücksicht auf den Willen der politischen Behörden verbindlich setzen kann, können Regierung und Parlament nie autonom handeln. Bei ihren Beschlüssen müssen sie stets auch Überlegungen zu den Erfolgschancen in einer Volksabstimmung miteinbeziehen. Diese Rücksichtnahme, die ihren institutionellen Ausdruck in den Expertenkommissionen (in denen vor allem Interessenvertreter sitzen), dem Vernehmlassungsverfahren, der Einbindung von grossen Oppositionsparteien in die Regierung (sogenannte Zauberformel) und den Detailberatungen im Parlament findet, ist mit einem grossen Aufwand verbunden und steht einem raschen legislatorischen Tempo im Wege. Diese geringe Effizienz der politischen Institutionen macht sich vor allem in Zeiten raschen Wandels negativ bemerkbar. Ob die Bilanz auch bei längerfristiger Perspektive derart negativ ausfällt, dass sich ein Abbau der Volksrechte aufdrängt, darf jedoch bezweifelt werden. Internationale Vergleiche, zum Beispiel in den Bereichen der Wirtschafts- und der Umweltpolitik sprechen eher für das Gegenteil. Parlamentarische Regierungssysteme haben zwar den Vorteil, dass die Parlamentsmehrheit und die von ihr gewählte Regierung ihre Entscheide rascher fällen können. Nicht selten verwenden sie freilich einen guten Teil ihrer legislatorischen Effizienz für die Korrektur von Entscheiden der früheren, jetzt vom Volk in die Opposition verbannten Mehrheit.
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