Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Nationale Identität
Die Fragen der nationalen Identität, der soziokulturellen und politischen Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein sowie deren Bedeutung für ein modernes Staatswesen in einem sich wandelnden Kontext wurden im Berichtsjahr in vielfältiger Weise aufgeworfen. Unter anderem war dies auch das Thema eines Kolloquiums auf Schloss Lenzburg (AG), an welchem z.B. der Geschichtsprofessor Ulrich Im Hof in seiner Rede die Vaterlandsliebe als Liebe des Esels zum Stall charakterisierte. Gemäss seinen Ausführungen berge die Selbstgenügsamkeit vieler Bürgerinnen und Bürger in der heimatlichen Geborgenheit die Gefahr in sich, die Herausforderungen einer sich öffnenden, komplexen Welt, welche andere Wertvorstellungen repräsentiere, zu ignorieren [1].
Eine ähnliche Problematik kam am Forum "Störfall Heimat – Störfall Schweiz", organisiert vom Zürcher Institut für angewandte Psychologie, zur Sprache. Thematisiert wurde das Ende des 'Sonderfalls' sowie das Spannungsfeld von verunsichertem Selbstverständnis und europäischer Herausforderung. Die Referenten unterschieden verschiedene Ebenen von Identität und deren mögliche Konsequenzen wie Provinzialismus, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Kooperations- und Integrationsfähigkeit. Die These, wonach die übermässige Beschäftigung mit sich selber als Zeichen einer allgemeinen Verunsicherung wie auch einer Schweiz im Umbruch zu deuten sei, wurde ebenfalls diskutiert. Im Spannungsfeld zwischen Öffnung und Heimatbezogenheit plädierten die einen für eine verstärkte Integration der Schweiz in ein übergeordnetes Europa, während andere die Idee Heimat in der Region, auch in der staatenübergreifenden, als erstrebenswert erachteten [2].
Auch der Schriftsteller Adolf Muschg, der unter dem Titel "Die Schweiz am Ende – am Ende die Schweiz" Aufsätze, Reden und Artikel über die Schweiz der 70er und 80er Jahre veröffentlichte, thematisierte den 'Sonderfall' Schweiz und dessen Ende. Mit der Kopp-Affäre, den Enthüllungen zur Geldwäscherei und dem Fichen-Skandal sei das Ende des 'Sonderfalles' deutlich zu Bewusstsein gekommen. Eine neue Auseinandersetzung sowohl mit der Vergangenheit als auch mit den Problemen der Zukunft sollte gemäss Muschg unbedingt einsetzen. Was die Vergangenheit anbelangt, müsste die Schweiz sich vermehrt mit der Bundesstaatsgründung 1848 – ein Markstein der. Integration der Schweiz – auseinandersetzen; für die Zukunft ist für Muschg die Erhaltung kleiner, überblickbarer Strukturen relevant, ohne dass jedoch das Fremde und Ausländische einfach ausgegrenzt und aus dem Bewusstsein ausgelöscht wird [3].
Für die Geschichtsprofessorin Beatrix Mesmer bedeutet die Phase der Offenlegung verschiedenster Missstände, welche in der Schweiz in den letzten Jahren aufgedeckt worden sind, auch eine Chance der Läuterung, einer Katharsis, mit deren Hilfe das Land ein neues Geschichtsbild und damit vielleicht auch einen neuen politischen Stil aufbauen könnte. Die aussenpolitische Herausforderung der europäischen Integration könnte in dieser Situation helvetischen Umbruchs auch eine neue Staatskultur hervorbringen [4].
Die französische Wochenzeitschrift "Le Canard enchaîné" hat im Frühjahr ein Dossier Schweiz, "La Suisse noir sur blanc", zusammengestellt, in welchem verschiedenste – unter anderem auch welsche – Journalisten Aufsätze zu einem differenzierten Bild der Schweiz beitrugen. Die Artikel reichten von idealisierenden Klischeebildern bis zur harten Kritik an der Drogengeldwäscherei und dem Fichenskandal. Die Publikation zeigte, dass das Ausland die aktuellen Probleme der Schweiz durchaus wahrnimmt [5].
top
 
print
Reflexionen zum Begriff Heimat
Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes "Kulturelle Vielfalt und nationale Identität" (NFP 21) ergab eine repräsentative Befragung der Bevölkerung über die territoriale Identifikation, dass sich die Bewohner der französischen und der italienischen Schweiz stärker mit der Region und weniger mit der ganzen Schweiz identifizieren als jene der deutschen Schweiz; letztere identifizieren sich aber gleichzeitig stärker mit der Gemeinde. Ausserdem zeigte die Studie auf, dass einem tiefen Bildungsgrad eine hohe kommunale Bindung und geringe übernationale Bindung entspricht. Aus den Abstimmungsresultaten zum Freihandelsabkommen von 1972 und zum UNO-Beitritt 1986 leitete eine Studie ab, dass im Hinblick auf eine europapolitische Abstimmung zum EWR-Vertrag oder zu einem EG-Beitritt mit drei Lagern zu rechnen sei, die sich etwa folgendermassen zusammensetzen: ein Viertel "harte Isolationisten" (vor allem in ländlichen Gebieten), ein Viertel "harte Integrationisten" (eher in städtischen Siedlungen mit hohem Linkswähleranteil) und etwa die Hälfte "weiche Integrationisten" (eher in Arbeitergemeinden und kleinbürgerlicher Umgebung), wobei letztere vor allem am wirtschaftlichen Nutzen einer Öffnung interessiert sind [6].
Über das "Panorama der Schweizer Geschichte" und die Bestrebungen, den 1. August zu einem arbeitsfreien Feiertag zu machen, orientieren wir an anderer Stelle [7].
Ein parlamentarischer Vorstoss für die Ausarbeitung eines politischen Leitbildes für die Schweiz in einem gewandelten europäischen Kontext wurde von Ständerat Rhinow (fdp, BL) in Form eines Postulats eingereicht. Der von 30 Standesvertretern unterschriebene Text fordert den Bundesrat auf, die Stellung der Schweiz in bezug auf ihre Position in Europa und in der Welt neu zu definieren und einen breiten Dialog über die Identität unseres Landes, über die tragenden und verbindenden, überlieferten und neuen Werte, über Optionen und Ziele unseres Landes sowie die Wiederbelebung der gegenseitigen Verständigung in Gesellschaft und Politik zu initiieren [8].
 
[1]AT, 14.9. und 21.9.90; BaZ, 25.9.90.
[2] TA, 12.6.90; NZZ, 15.6.90; AT, 25.7.90.
[3] WoZ, 5.10.90; vgl. Lit. Muschg.
[4] Interview in TA, 31.12.90.
[5] Lib., 20.3.90; BaZ, 26.3.90; vgl. Lit. La Suisse noir sur blanc.
[6] NZZ, 10.7.90; SGT, 2.8.90; zu NFP 21 allgemein siehe TA, 11.7.90; vgl. Lit. Meier/Ritschard/Nef.
[7] Siehe unten, Teil 1, 7a (Arbeitszeit) und 8b (Kulturpolitik).
[8] VerhandL B. vers., 1990, V, S. 147 f.; NZZ und BZ, 19.9.90. Der Bericht zu einem Postulat Ott (sp, BL) mit ähnlicher Zielsetzung, 1987 eingereicht, sollte im Verlaufe des Jahres 1991 dem Parlament vorgelegt werden.