Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Totalrevision der Bundesverfassung
Ursprünglich war das Projekt Totalrevision vor 25 Jahren, nach der letzten grossen Staatskrise, der sogenannten Mirage-Affäre, an die Hand genommen worden. 1977 hatte die Expertenkommission Furgler einen Verfassungsentwurf präsentiert, der im anschliessenden Vernehmlassungsverfahren sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Der Bundesrat hielt, wie auch die Mehrheit der Vernehmlassungsantworten, eine Totalrevision der Bundesverfassung für notwendig und beantragte der Bundesversammlung, die förmliche Einleitung des Verfahrens zu beschliessen. Seinem Bericht an die Bundesversammlung legte er eine Modellstudie des EJPD bei. Diese Studie, welche aufgrund des Schlussberichts der Arbeitsgruppe Wahlen, der bisherigen Verfassungsentwürfe sowie von totalrevidierten Kantonsverfassungen erarbeitet worden war, sollte die wichtigsten Züge einer neuen Verfassung aufzeigen. Die eidgenössischen Räte beschlossen 1987 die Totalrevision der Bundesverfassung und beauftragten den Bundesrat, einen Entwurf mit einer allerdings nur formalen Revision, welche das geltende Recht systematisch ordnet, vereinheitlicht und verständlicher darstellt, zu erarbeiten. Der Auftrag einer rein formalen Revision hatte zur Folge, dass sich niemand mehr enthusiastisch hinter das Projekt stellen konnte [9].
Die Staatsschutzkrise, aber auch die Diskussionen um die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft verliehen dem Prozess der Totalrevision neuen Aufwind. Zuerst reichten die grüne, darauf die sozialdemokratische Fraktion und zuletzt die Freisinnige Nabholz (ZH) Motionen bezüglich einer materiellen Totalrevision der Bundesverfassung ein. Die Motionen der GP und der SP verlangen eine Revision in demokratischer, ökologischer, föderalistischer und sozialer Hinsicht und fordern Massnahmen, welche die Entwicklungen in Europa und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Schweiz mitberücksichtigen; eine derartige Totalrevision würde nach Ansicht beider Parteien einen wesentlichen Schritt zur Überwindung der gegenwärtigen Staatskrise bedeuten. In der Motion Nabholz geht es weniger um sachpolitische Ziele als um eine Verbesserung der Innovationsfähigkeit des politischen Systems, wozu insbesondere eine Parlaments- und Regierungsreform im Sinne der Vorschläge der Motion Rhinow (fdp, BL) gehören würde. Die Motion Nabholz sowie jene der SP-Fraktion sehen einen Verfassungsrat zur Ausarbeitung des Revisionsentwurfs vor; hierzu müsste in die bestehende Verfassung zuerst ein entsprechender Artikel eingefügt werden [10].
Die Staatsrechtsprofessoren Kölz und Müller haben im Juli eine gründlich überarbeitete Fassung ihres 1984 erstmals veröffentlichten Entwurfs für eine totalrevidierte Bundesverfassung vorgelegt, welcher als Erweiterung neben einem Ausbau des Persönlichkeitsschutzes auch ein Kapitel über die Beziehungen zu Europa enthält. Ohne konkret zum Abschluss eines EWR-Vertrags oder zu einem EG-Beitritt Stellung zu nehmen, hielten sie fest, dass sie die Instrumente der direkten Demokratie so weit wie möglich beibehalten möchten. Die Bundesversammlung sollte allerdings die Kompetenz haben, die Unvereinbarkeit einer vom Volk angenommenen Gesetzes- oder Verfassungsinitiative mit einer Verfassungsbestimmung oder europäischem Integrationsrecht in einem begründeten und vor Bundesgericht anfechtbaren Entscheid festzustellen [11].
Gleichzeitig mit dem Erscheinen des neuen Entwurfs wurde auch die 1984 gegründete "Vereinigung für Verfassungsreform (VVR)", welcher Jugend-, Frauen-, Konsumenten-, Kultur- und Umweltschutzorganisationen angehören, reaktiviert. Diese forderte im November den Bundesrat und die Bundesversammlung auf, die Totalrevision im Sinne des Entwurfs Kölz/Müller möglichst rasch an die Hand zu nehmen und als Sofortmassnahme die verfassungsmässige Grundlage für einen Verfassungsrat zu schaffen. Ausserdem verlangte sie die Einführung der Gesetzesinitiative [12].
Der Bundesrat nahm im Herbst Stellung zur Problematik der Verfassungsreform und betonte, zuerst müsse ein EWR-Vertrag ausgehandelt, genehmigt und die damit notwendige Anpassung der schweizerischen Rechtsordnung vollzogen werden. Erst nach einem positiven Entscheid über den EWR-Beitritt könnte eine europagerechte Vorlage für eine neue Bundesverfassung unterbreitet werden [13].
 
[9] TA, 24.3.90; NZZ, 15.5.90; vgl. SPJ 1986, S. 12 f. und SPJ 1987, S.14f.
[10] Verhandl. B.vers., 1991, I/II, S. 61 (GP), 65 (SP) und 117 (Nabholz). Zur Motion Rhinow siehe unten, Teil I, lc (Regierung, Parlament). Allgemeines in NZZ und BZ, 12.10.90. Zum Verfassungsrat vgl. auch NZZ, 15. I.90 sowie O. Reck, "Gesucht wird eine andere Schweiz", in Ww, 29.3.90 und Lit. Rüegg.
[11] SGT, 31.7.90; Presse vom 1.8.90; NZZ und TA, 12.10.90; DP, 29.11.90; vgl. auch die Interviews mit Kölz in TA, 12.10.90 und mit Müller in Bund, 20.10.90. Zum ursprünglichen Entwurf Kölz/ Müller siehe SPJ 1984, S. 13. Siehe auch Lit. Kölz/ Müller.
[12] Presse vom 1.8.90 und 21.11.90. Zur Gründung siehe SPJ 1984, S. 13.
[13] Gesch.ber. 1990, S. 193; NZZ, 26.9.90.