Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Datenschutz
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Volkszählung
Die alle zehn Jahre stattfindende eidgenössische Volkszählung wurde wie geplant mit dem Stichdatum 4. Dezember durchgeführt. Nachdem bereits die Volkszählung von 1980 nicht ohne Proteste und Verweigerungen über die Bühne gegangen war, formierte sich diesmal ein organisierter Widerstand, der namentlich von Aktivisten der grünen und linken Bewegungen getragen wurde. Begünstigt wurde diese Oppositionsbewegung durch ein generell angestiegenes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Datenerhebungen und -banken. Der "Fichenskandal", d.h. die Enthüllungen der Puk über die Datensammlungen der Bundesanwaltschaft, verstärkten dieses Missbehagen zusätzlich. Über die Qualität der Volkszählung 1990 lassen sich noch keine gefestigten Aussagen machen: während sich das Bundesamt für Statistik optimistisch in bezug auf Rücklaufquote und vollständige Beantwortung der Fragen gab, sprachen die Gegner von einem grossen Erfolg ihrer Verweigerungsaufrufe [6] .
Hinter dem Aufruf zum Boykott der Volkszählung stand unter anderem eine "Aktion gegen Datenerfassung". Sie wandte sich nicht nur gegen die geplante Volkszählung, sondern allgemein gegen die Erhebung von Daten. Diese Erhebungen würden ihrer Meinung nach nicht das Wesentliche erfassen und überdies nichts zur Lösung politischer und sozialer Probleme beitragen. Etwas differenzierter waren die Argumente der "Koordination Volkszählungsboykott 90", welche breit über Zweck und praktische Durchführung der Verweigerung informierte und dazu auch eine "Boik Otto" genannte Zeitung herausgab [7].
Breite Kreise im Komitee "Schluss mit dem Schnüffelstaat" versuchten, den Fichenskandal mit der Volkszählung in einen Konnex zu bringen. Nach langen internen Diskussionen, in denen sich vor allem die grossen Organisationen (SP, LdU und SGB) gegen eine Verweigerung aussprachen, verzichtete das Komitee auf einen Boykottaufruf. Im Gegensatz zu den erwähnten Parteien schloss sich hingegen die PdA dem Boykottaufruf an [8]. Im Nationalrat nahm S. Leutenegger Oberholzer (gp, BL) die Argumente der im Komitee unterlegenen Seite wieder auf. Sie schlug in einer Interpellation vor, auf die Durchführung der Volkszählung zu verzichten, bis alle von der Bundesanwaltschaft registrierten Personen vollständige Einsicht in ihre Dossiers erhalten haben. Für den Bundesrat bestand dazu kein Anlass, da weder ein rechtlicher noch ein sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen bestehe. Die Befragten seien zudem durch das im Rahmen des neuen Bundesgesetzes über die Volkszählung geschaffene Statistikgeheimnis vor der personenbezogenen Verwendung ihrer Angaben geschützt [9].
 
[6] Presse vom 1. November bis Mitte Dezember. Beurteilung: BZ, 18.12.90 (BA); TW, 8.12.90 (Gegner). Vgl. auch SPJ 1988, S. 24. Allgemein zur Wirtschafts- und Sozialstatistik der Schweiz siehe P. Bohley / A. Jans (Hg.), Einführung in die Wirtschafts- und Sozialstatistik der Schweiz, Bern 1990.
[7] BZ, 30.10.90; Vr, 30.10.90; TW, 30.10. und 24.11.90. Siehe auch Robotage (Hg.), Materialien gegen Erfassung, Planung und Kontrolle, Zürich 1990. Pikanterweise rief auch eine rechtsextreme Gruppe mit zum Teil identischen Argumenten zu einem Boykott auf (WoZ, 21.9.90).
[8] Komitee: WoZ, 10.8., 31.8.90; LNN, 27.8.90 (zum Komitee selbst siehe unten, Staatsschutz). PdA: WoZ, 12.10.90. Zu den Argumenten der linken Gegner eines Boykotts siehe C.-A. Udry, "Bumerang-Vorschläge der Linken", in WoZ, 21.9.90 sowie das Streitgespräch mit NR Vollmer (sp, BE) in TW, 26.11.90.
[9] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1296 f. Zum Gesetz, das auch Geldstrafen für Verweigerer vorsieht, siehe SPJ 1988, S. 24.