Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Staatsschutz
Nachdem im Vorjahr die Parlamentarische Untersuchungskommission (Puk) die Existenz einer sehr
umfangreichen Registratur mit Karteikarten (sog. Fichen) der politischen Polizei an die Offentlichkeit gebracht hatte, stand das Berichtsjahr im Zeichen der Organisation der Gewährung des Einsichtsrechts in diese Fichen. Bis zu der vom Bundesrat gesetzten Frist von Ende März hatten mehr als 300 000 Personen mit einem Brief Einsicht in ihre Fiche verlangt. Die Behörden konnten nach einiger Zeit auch genauere Angaben über die Anzahl der Fichen machen. Demnach existieren 731 000 Fichen für Personen (davon 161 500 Schweizer und Schweizerinnen) und 119 000 für Organisationen
[22]..
Bei der
organisatorischen Regelung des Einsichtsrechts in die Staatsschutzakten tat sich der Bundesrat schwer. Zuerst sah er vor, dass den Gesuchstellern unter Aufsicht von Beamten der Bundesanwaltschaft in den Kantonshauptorten Einsicht in eine Kopie ihrer Karteikarte gewährt werden sollte
[23]. Nachdem erste Versuche in der Stadt Bern unbefriedigend verlaufen waren, regelte er mit einer am 5. März erlassenen Verordnung das Einsichtsrecht in die nach Personen erschlossenen Staatsschutzakten (d.h. die Fichen und direkt dazugehörende Dossiers) neu. Zuständig für die Gewährung des Einsichtsrechts wurde ein vom Bundesrat eingesetzter Sonderbeauftragter. Die Gesuchsteller erhalten von diesem Sonderbeauftragten eine Kopie ihrer Fiche zugeschickt, wobei bestimmte Angaben (z.B. über private und ausländische Informanten und laufende Ermittlungen) abgedeckt werden. Zur Behandlung von Beschwerden, welche sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergeben, wurde eine Ombudsstelle geschaffen, welche alle Staatsschutzakten des Polizeidienstes der Bundesanwaltschaft einsehen kann
[24]. Verschiedene von der Linken und den Grünen eingereichte Motionen zur Offenlegung der Fichen und Dossiers wurden danach vom Nationalrat entweder als bereits erfüllt abgeschrieben, oder aber nur in Postulatsform überwiesen. Eine Motion der SP, welche eine automatische Benachrichtigung aller Fichierten — mit Ausnahme derjenigen, gegen welche ein gerichtspolizeiliches Verfahren läuft — verlangte, wurde hingegen abgelehnt
[25].
Zum
Sonderbeauftragten für Staatsschutzakten wählte der Bundesrat den Präsidenten der Puk, Nationalrat Leuenberger (sp, ZH). Nachdem ein vom Büro des Nationalrates angefordertes Gutachten rechtliche Bedenken gegen die Ausübung dieses Amtes durch einen Parlamentarier angemeldet hatte, gab Leuenberger sein Mandat zurück. An seiner Stelle übernahm der ehemalige Luzerner Regierungsrat Walter Gut (cvp) das Amt
[26]. Leiter der Ombudsstelle blieb der im Vorjahr ernannte alt Bundesrichter Arthur Haefliger
[27].
In der erwähnten Verordnung ist auch festgehalten, dass von kantonalen und kommunalen Polizeiorganen erstellte Akten zu Bundesakten geworden sind, wenn sie an die Bundespolizei weitergeleitet worden sind, oder als Vorarbeiten zu solchen Akten gedient haben. Da diese Umschreibung für die Mehrzahl der
Akten der kantonalen Staatsschutzstellen zutrifft, sind die Kantone demnach in den meisten Fällen nicht berechtigt, in eigener Regie Einsicht in diese in einzelnen Kantonen sehr umfangreichen Datensammlungen zu gewähren. Diese Regelung wurde nicht nur von den Fichierten, sondern in mehreren Kantonen auch von den Behörden und von Staatsrechtlern bestritten. Unter anderem sprach der Genfer Regierungsrat mit einer beim Bundesgericht eingereichten staatsrechtlichen Klâge dem Bund die Kompetenz zum Erlass dieser Verordnung ab
[28]. Einen ersten Entscheid in dieser Angelegenheit fasste das Verfassungsgericht von Baselland. Es stellte fest, dass keine rechtlichen Grundlagen für die Tätigkeit einer politischen Polizei vorhanden seien, und deshalb der Bund auch kein Verfügungsrecht über vom Kanton angelegte Akten aus diesem Bereich anmelden könne
[29]. In den meisten Kantonen beschlossen die Parlamente, die Tätigkeit und die Registraturen der kantonalen politischen Polizei zu untersuchen
[30].
Umstritten in dieser Verordnung war auch der Auftrag an den Staatsschutzbeauftragten, nicht mehr benötigte
Fichen zu vernichten. Linke Parlamentarier und auch Geschichtswissenschafter protestierten gegen diese Aktenvernichtung unter anderem mit dem Argument, dass damit die wissenschaftliche Erforschung der neueren Schweizer Geschichte erschwert oder gar verunmöglicht werde. Der Bundesrat hielt zwar grundsätzlich an seiner Meinung fest, dass es nicht sinnvoll sei, die Fichen zu archivieren. Da er aber ein Wissenschafterteam unter der Leitung des Basler Geschichtsprofessors Georg Kreis mit der Aufarbeitung der Entwicklung des schweizerischen Staatsschutzes beauftragt habe, werde über Ausmass und Zeitpunkt der Aktenvernichtung ohnehin erst später entschieden
[31]. Angesichts des grossen personellen Aufwands, den die Bearbeitung der mehr als 300 000 Einsichtsgesuche erfordert, wurden auch Stimmen laut, welche die Übung nach der Verschickung der Fichenkopien beenden möchten. Der Ständerat überwies in diesem Sinn ein Postulat Hunziker (fdp, AG), welches die Dossiers nur in speziellen Fällen (z.B. bei Schadenersatzklagen) zugänglich machen möchte
[32]. Nationalrat Eisenring (cvp, ZH) verlangte mit einem noch nicht behandelten Postulat, dass angesichts der geschätzten Kosten von rund 50 Mio Fr. sogar die Offenlegung der Fichen abgebrochen werden soll. Im Ständerat reichte der Freisinnige Hunziker (AG) ein ähnliches Postulat ein
[33].
Aus den Eintragungen in einzelnen offengelegten Fichen erhärtete sich der Verdacht, dass auch vom
Militärdepartement Personen wegen ihrer politischen Meinungen und Aktivitäten registriert worden waren. Diesen Tatbestand musste auch das EMD, das ihn anfänglich abgestritten hatte, bestätigen. Es hielt allerdings fest, dass diese Kartei seit 1977 nicht mehr geführt werde. Einen Tag später musste Bundesrat Villiger jedoch bekanntgeben, dass von der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA) immer noch eine rund 5 000 Personen umfassende Kartei geführt werde. Nachdem auch noch ein Journalist in einer Fernsehsendung berichtet hatte, dass ihn ein Vertreter der UNA für die Informationsbeschaffung über eine Mediengewerkschaft habe gewinnen wollen, reagierte das Parlament. Die Freisinnigen und die SVP, welche die Tätigkeit der UNA von den Geschäftsprüfungskommissionen hatten untersuchen lassen wollen, gaben ihren Widerstand gegen die Einsetzung einer mit grösseren Kompetenzen ausgestatteten Parlamentarischen Untersuchungskommission (Puk II) auf
[34].
Nach der Aufdeckung der Karteien des EMD wurden die auf Weisung des EJPD-Chefs losgeschickten Beamten in der Bundesanwaltschaft erneut fündig: zusätzlich zu den von der Puk festgestellten Fichen fanden sie
weitere, zum Teil seit Jahrzehnten nicht mehr nachgeführte
Karteien über "Extremisten", "vertrauensunwürdige Bundesbeamte", "Jura-Aktivisten" und so weiter
[35].
Der
Ergänzungsbericht der Puk zu den Vorkommnissen im EJPD ergab danach kaum grundsätzlich Neues. Er befasste sich unter anderem mit diesen Spezialkarteien, deren Vorhandensein erst nach der Publikation des ersten Berichts aufgedeckt worden war. In der Untersuchung einiger Fälle stellte die Puk die systematische Verletzung des Postgeheimnisses durch einzelne Postämter und Zollstationen fest
[36] .In der parlamentarischen Behandlung dieses Zusatzberichts forderten die Fraktionen der SP und der Grünen im Nationalrat erfolglos weitere Abklärungen durch die Puk und die Feststellung der administrativen und politischen Verantwortlichkeit. Die bürgerlichen Fraktionen und die Untersuchungskommission selbst lehnten weitere Untersuchungen durch die Puk ab. Mehrere Sprecher betonten, es sei wichtig, nun einen Schlussstrich unter Vergangenes zu ziehen; der freisinnige Parteipräsident Steinegger (UR) warnte in diesem Zusammenhang davor, sich mit einer "Musealisierung der Politik" um die Lösung von Zukunftsaufgaben zu drücken
[37]. Dass die bürgerliche Mehrheit des Nationalrats von den Auseinandersetzungen über die Karteien der Bundesanwaltschaft offenbar genug hatte, demonstrierte sie ebenfalls am Schlusstag der Sommersession, als sie anlässlich der Behandlung von Interpellationen drei Anträge auf Diskussion ablehnte
[38].
[22] Siehe SPJ 1989, S. 22 ff. Insgesamt gingen 311 857 Einsichtsgesuche ein (Presse vom 10.4.90; NZZ, 8.8.90). Anzahl Fichen: NZZ, 22.9.90.
[24] Versuche: Presse vom 13.2.90. Neue Regelung: AS, 1990, S. 386 ff.; Presse vom 6.3. und 30.3.90.
[25] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 206 ff. (Abstimmungen S. 238).
[26] Leuenberger: Presse vom 13.3. und 20.3.90.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 384 f. Gut: Presse vom 12.4.90.
[27] Vgl. SPJ 1989, S. 23.
[28] SGT, 14.6.90; Bund, 23.6.90; TW, 15.9.90 (T. Fleiner); NZZ, 6.11.90 (Aussprache Kollers mit Kantonsvertretern); Plädoyer, 8/1990, Nr. 6, S. 37. Genf: JdG, 7.6.90. Position des BR: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2455 f.
[29] BZ, 8.11.90; Plädoyer, 9/1991, Nr. 1, S. 66 ff. (Urteilsbegründung). Vgl. auch Ww, 15.11.90.
[30] TW, 31.3.90. Für einzelne Kantone vgl. z.B. BaZ, 16.2.90 (BS); SZ, 23.3.90 (SO); AT, 28.3.90 (AG); SGT, 30.3.90 (SG); BZ, 26.5.90 (BE). Vgl. auch WoZ, 16.2.90 und NZZ, 24.2.90 (Oberblicke über die politische Polizei in den Kantonen und den Städten Bern und Zürich).
[31] Proteste: WoZ, 16.3.90 (J. Tanner); NZZ, 17.3. (K. Urner) und 11.4.90 (Allg. Geschichtsforschende Gesellschaft); 24 Heures, 12.5.90 (Y. Collard). BR: BaZ 12.4.90 (Historikerteam) und Amtl. Bull. StR, 1990, S. 443 f. (vom StR abgelehntes Postulat Bührer sp, SH gegen die Vernichtung).
[32] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 1050 f.
[33] Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 85 (Eisenring) und S. 143 f. (Hunziker); SN, 28.9.90; TA, 9.10.90.
[34] TA, 13., 14.2.90 (Verdacht und EMD); Presse vom 15.2.90 (BR); TA, 21.2 und Presse vom 22.2.90 sowie unten, Teil I, 8a, Offizielle Informationstätigkeit (TV-Sendung); Presse vom 9.3.90 (Puk). Vgl. auch Ww, 15.2.90. Zu den Ergebnissen dieser Puk siehe unten, Teil 1, 3 (Défense nationale et société).
[36] BBI, 1990, Il, S. 1565 ff.; Presse vom 2.6.90.
[37] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1206 ff.; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 428 ff.; Presse vom 22.6.90.
[38] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1300 ff. und 1304.
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