Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung / Strafrecht
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Sexualstrafrecht
Als Zweitrat behandelte der Nationalrat in der Wintersession die Revision des Sexualstrafrechts ("strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität"). Es handelt sich dabei um den zweiten Teil der 1985 vom Bundesrat vorgeschlagenen Überarbeitung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzbuchs über strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie [59] . Wichtigste Streitpunkte bildeten das sogenannte Schutzalter, die Entkriminalisierung von Liebesbeziehungen zwischen Jugendlichen sowie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe.
Der Rat entschied sich wie zuvor der Ständerat für die Beibehaltung des Schutzalters 16. Sexuelle Handlungen sollen jedoch nicht mehr bestraft werden, wenn die Beteiligten mindestens 14jährig sind und ihr Altersunterschied nicht mehr als vier Jahre beträgt. Wenn alle Beteiligten weniger als vierzehn Jahre alt sind, sollen gemäss dem Beschluss des Nationalrats ihre sexuellen Handlungen nicht mehr bestraft werden [60].
In der Debatte über die Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe wurde die vom Ständerat 1987 beschlossene Beibehaltung der Straffreiheit von keinem Redner verteidigt. Umstritten war hingegen die von der SP, den Grünen und von Nationalrätinnen aller Parteien geforderte Einstufung als Offizialdelikt. Die Frauenorganisationen von CVP, SP, SVP, GPS, LdU, SD und POCH hatten sich zuvor in einer gemeinsamen Stellungnahme ebenso für die Ausgestaltung als Offizialdelikt ausgesprochen wie der Schweizerische Katholische Frauenbund und die Dachorganisation der Frauenhäuser. Sie argumentierten, dass die Vergewaltigung inner- und ausserhalb der Ehe gleich behandelt werden müsse, und dass mit der Form des Antragsdelikts der Schutz der Frau nicht gewährleistet sei. Für die Einstufung als Antragsdelikt wurde die Begründung ins Feld geführt, die betroffene Frau müsse selbst entscheiden können, ob sie ein Strafverfahren gegen ihren Ehemann mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen in die Wege leiten wolle. In einer Namensabstimmung entschied der Rat mit 99 zu 68 Stimmen für die Strafverfolgung auf Antrag [61]..
 
[59] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2252 ff., 2300 ff. und 2309 ff. Der erste Teil war 1989 verabschiedet und auf den 1. Januar 1990 in Kraft gesetzt worden (siehe SPJ 1989, S. 26).
[60] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2264 ff.; Presse vom 12.12.90.
[61] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2300 ff. und 2309 ff.; Presse vom 13.12.90; NZZ, 22.3. (Frauenbund) und 4.12.90 (Parteien); Vr, 11.12.90 (Frauenhäuser). Vgl. auch TA, 10.12.90; BZ, 1 1.12.90 sowie SPJ 1987, S. 22 f. und 1989, S. 26.