Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Parlament
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Parlamentsreform
Der Nationalrat befasste sich mit den Vorschlägen zur Revision seines Geschäftsreglementes, welche seine Kommission im Rahmen der Behandlung der 1987 überwiesenen parlamentarischen Initiative Ott (sp, BL) ausgearbeitet hatte. Das Ziel dieser Reform liegt in einer Rationalisierung des Ratsbetriebs, damit die anstehenden Geschäfte in nützlicher Frist behandelt und verabschiedet werden können. Dabei will der Rat ohne zusätzliche Sitzungszeiten auskommen: ein Antrag Hubachers (sp, BS), die Dauer der vier ordentlichen Sessionen von drei auf vier Wochen auszudehnen, fand keine Mehrheit. Das Kernstück der Kommissionsanträge bildete eine Staffelung der Geschäfte — und ihrer Behandlungsweise und -zeit — nach Bedeutung (Art. 68). Die SP-Fraktion verlangte vergeblich, dass der Rat die Einordnung in die untersten Bedeutungsstufen, bei denen die Debatte lediglich in reduzierter oder gar schriftlicher Form abgewickelt wird, nur auf einstimmigen Antrag der Fraktionspräsidentenkonferenz vornehmen darf. Die Grünen waren mit den beschlossenen Einschränkungen der freien Parlamentsdebatte derart unzufrieden, dass sie die Vorlage in der Schlussabstimmung nach der ersten Lesung ablehnten [27].
Zu einer Verkürzung der Ratsdebatten möchte ebenfalls der Vorschlag Jaegers (ldu, SG) beitragen, dass Voten auch schriftlich abgegeben und ins Ratsprotokoll aufgenommen werden können, wie dies z.B in den Parlamenten Deutschlands und der USA möglich ist. Der Rat fand diesen Vorschlag sinnvoll und beauftragte sein Büro mit der Ausarbeitung eines konkreten Vorschlags [28] .
Die Freisinnigen Rhinow (BL) und Petitpierre (GE) legten im März den beiden Kammern zwei gleichlautende, in Form von allgemeinen Anregungen gehaltene parlamentarische Initiativen für eine Fortsetzung der Parlamentsreform vor. Als konkrete Massnahmen erwähnten sie darin namentlich die Beschleunigung des Rechtssetzungsverfahrens (z.B. durch gemeinsame Vorberatung der Kommissionen beider Kammern), eine nach Dringlichkeit gestaffelte Behandlung der Geschäfte und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Abgeordneten, insbesondere durch die Zurverfügungstellung von wissenschaftlichem und administrativem Hilfspersonal. Zusätzlich zu diesen eher graduellen Veränderungen möchten die Initianten noch drei grundlegende Neuerungen überprüft sehen: 1. Die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an parlamentarische Kommissionen bei zweitrangigen, nicht umstrittenen Geschäften, wobei im Plenum nur noch die Schlussabstimmung durchgeführt würde; 2. die volle Entlöhnung für diejenigen Parlamentsmitglieder, welche ihr Mandat im Vollamt ausüben wollen; 3. die differenzierte Behandlung von gewissen Geschäften durch die beiden Ratskammern [29] .
Beide Kammern traten bereits in der Herbstsession auf diese parlamentarischen Initiativen ein und beschlossen, ihnen Folge zu geben. Damit beauftragten sie ihre Kommissionen, die darin gemachten Vorschläge zu überprüfen und allfällige konkrete Massnahmen vorzuschlagen [30] . Im Rahmen dieser Arbeit wird auch untersucht werden, ob die bisherigen vier dreiwöchigen Sessionen durch monatliche Sessionen von einer Woche Dauer ersetzt werden sollen [31] .
Der 1989 eingereichte Vorstoss Braunschweig (sp, ZH) für eine Entflechtung von politischem Amt und Wirtschaftstätigkeit vermochte sich im Nationalrat nicht durchzusetzen. Die als Anregung formulierte parlamentarische Initiative für eine Beschränkung bzw. ein Verbot der Ausübung von Verwaltungsratsmandaten und Beratertätigkeiten wurde von den bürgerlichen Fraktionen bekämpft und deutlich abgelehnt [32] .
Die mit diesem Vorstoss in engem Zusammenhang stehende parlamentarische Initiative Zbinden (sp, AG) für eine substantielle Verbesserung der Bezüge der Parlamentarier, um diese unabhängiger von wirtschaftlichen Tätigkeiten zu machen und ihnen die Mittel zur Finanzierung von externen Aufträgen zu geben, fand ebenfalls keine Zustimmung. Dabei wurde der Vorstoss von den Gegnern einerseits wegen der unmittelbar zuvor verabschiedeten Initiative Petitpierre (fdp, GE) für eine umfassende Parlamentsreform als überflüssig bezeichnet. Andererseits warnten sie aber auch vor Schritten, welche zu einem Berufsparlament führen könnten [33] . Die Widerstände gegen einen formalen Abschied vom Milizparlament sind offenbar nach wie vor gross. Eine Untersuchung der Politologen Riklin und Möckli hatte zwar ergeben, dass die Parlamentarier bereits heute durchschnittlich die Hälfte ihrer Arbeitszeit für ihr Mandat verwenden und dass ein Drittel von ihnen effektiv Berufspolitiker sind. Trotzdem sprachen sich die befragten Parlamentarier mit deutlicher Mehrheit gegen Rhinows und Petitpierres Vorschlag aus, zwischen Voll- und Nebenamt wählen zu können [34]. Das Parlament beschloss im weiteren, die Taggeld-, Mahlzeiten- und Übernachtungsentschädigungen der Teuerung anzupassen [35].
Einen radikalen Vorstoss für eine Parlamentsreform stellt die Ende 1989 eingereichte parlamentarische Initiative der Grünen Partei für die Abschaffung des Ständerates dar. Das föderalistische Element soll gemäss diesem Vorschlag mit einem besonderen Verfahren bei der Auszählung der Stimmen im Nationalrat respektiert werden. Mit dieser Neuerung würden nach Ansicht der Initianten zwei Ziele erreicht: die sich wegen der Zweier- und Einerwahlkreise ergebende Dominanz der grossen Parteien im Ständerat würde eliminiert und die parlamentarischen Beratungen könnten vereinfacht und verkürzt werden. Die Kommission des Nationalrates verabschiedete im Dezember ihre Stellungnahme. Sie sprach sich mit 10:1 Stimmen bei 4 Enthaltungen gegen den Vorstoss aus. Der Ständerat bildet nach Ansicht der Kommissionsmehrheit einen unverzichtbaren Grundpfeiler des schweizerischen Bundesstaates. Zudem wirke sich ein System mit zwei gleichberechtigten Kammern vorteilhaft auf die Qualität der Gesetzgebungsarbeit aus, wobei allerdings die Zusammenarbeit der beiden Kammern verbesserungsbedürftig sei [36].
 
[27] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 5 ff., 170 ff., 652 ff. und 1319; AS, 1990, S. 954 ff.; NZZ, 2.2.90. Die neuen Bestimmungen wurden in der Herbstsession zum ersten Mal angewendet.
[28] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 701 f. Die Frage war bereits bei der oben erwähnten Rationalisierung des Verhandlungsablaufs kurz diskutiert worden (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 173 f.).
[29] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1624 ff.; Amtl. Bull. StR, 1990, S: 653 ff.
[30] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1627; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 661 ff.
[31] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1909 (als Postulat überwiesene Motion Zbinden, cvp, FR).
[32] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1630 ff. Vgl. SPJ 1989, S. 33.
[33] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1638 ff. Vgl. SPJ 1989, S. 33.
[34] BaZ, 3.11.90; SGT, 16.11.90; Lit. Riklin/Möckli. Siehe auch die Argumente für ein Milizparlament in Lit. Marti, S. 105 ff.
[35] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1628 ff. und 1928; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 669 f. und 858; AS, 1990, S. 1586. Zur Erhöhung der Beiträge an die Fraktionen siehe unten, Teil Illa (Parteiensystem).
[36] Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 30; TA, 21.5.90 (GP); NZZ, 4.9.90 (Kommission). Anlass des Vorstosses der GP war ihre Verärgerung über die Entscheide des StR bei der Beratung des Gewässerschutzgesetzes (vgl. SPJ 1988, S. 182 und 1989, S. 177). Siehe auch — als Befürworter des StR — L. Neidhart, "Ständerat: Kehren alte Besen schlecht?", in TA, 24.9.90 und Lit. Marti, S. 116 ff.