Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Gerichte
Da die "Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz" gegen die Revision des Bundesgesetzes über die Bundesrechtspflege das Referendum eingereicht hatten, musste darüber das Volk entscheiden. Im Zentrum der
Argumente der Revisionsgegner stand die Erhöhung der
Streitwertgrenze für zivilrechtliche Fälle von 8000 Franken auf 30 000. Diese Erhöhung bringe auf der einen Seite nur eine geringe Reduktion der Arbeitslast der Richter, da es bisher beim Bundesgericht pro Jahr bei einem Total von rund 4000 Fällen bloss deren 600 zivilrechtliche (davon rund ein Drittel mit einem Streitwert von weniger als 30 000 Fr.) gegeben habe. Andererseits würde aber mit dieser Erhöhung das Bundesgericht seiner Möglichkeit beraubt, wichtige Grundsatzentscheide im Arbeits-, Miet- oder Konsumentenschutzrecht zu fällen. Damit würde nach Ansicht der Revisionsgegner nicht nur die Rechtsstellung der meisten Angestellten, Mieter und Konsumenten verschlechtert, sondern auch das Anliegen einer einheitlichen schweizerischen Rechtssprechung beeinträchtigt. Das im Parlament noch sehr umstrittene Vorprüfungsverfahren für staatsrechtliche Beschwerden spielte hingegen in der Abstimmungskampagne kaum eine Rolle
[48].
Für die
Befürworter der Vorlage stellte die Erhöhung der Streitwertgrenze lediglich eine Anpassung an die seit der letzten Erhöhung (1959) eingetretene Lohn- und Preisentwicklung dar. Zudem betonten sie die föderalistische Organisation desschweizerischen Gerichtswesens, welche es nicht erforderlich mache, dass sich das Bundesbericht mit allen Fällen befassen müsse
[49].
Von den
Parteien setzten sich die drei bürgerlichen Bundesratsparteien, die Liberalen und die Auto-Partei für die Revision ein; die linken und grünen Parteien, der Landesring und die SD bekämpften sie gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Mieter- und der Konsumentenverbänden. Die
Interessenorganisationen der Unternehmer und der Landwirte verzichteten auf Empfehlungen. Diese Zurückhaltung mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die flaue Abstimmungskampagne in den Medien eindeutig von den Gegnern dominiert wurde
[50].
Am 1. April
lehnte der Souverän die Revision mit einer Mehrheit von 52,7% ab. Die
stärkste Ablehnung ergab sich in den Kantonen Jura (65%), Genf, Neuenburg und Schwyz; die grössten Ja-Anteile wiesen Appenzell-Innerrhoden (55%), Nidwalden und Waadt auf
[51]. Eine nach dem Urnengang durchgeführte Befragung zeigte, dass die Anhänger der bürgerlichen Parteien die Parteiparolen nur schlecht befolgt hatten: einzig die Sympathisanten der SVP waren mehrheitlich hinter der Revision gestanden (60%), beim Freisinn hielten sich Gegner und Befürworter die Waage, während bei der CVP die Ablehnung mit 57% dominierte
[52].
Nach dem negativen Ausgang der Volksabstimmung schlugen die Revisionsgegner eine personelle Aufstockung des Bundesgerichts und dabei namentlich die Schaffung einer dritten verwaltungsrechtlichen Abteilung vor. Die Mehrheit der Bundesrichter verlangte in einer gemeinsamen Eingabe vom Bundesrat, die
Vorlage um die umstrittenen Punkte zu reduzieren und nochmals vorzulegen. Damit könnten immerhin die Bildung einer weiteren öffentlichrechtlichen Abteilung, die obligatorische Einführung von kantonalen Verwaltungsgerichten und die Möglichkeit, weniger wichtige Fälle von nur noch drei statt fünf Richtern behandeln zu lassen, aus dem abgelehnten Reformpaket gerettet werden. Diese Forderungen wurden von einer Motion Küchler (cvp, 0W) aufgenommen, welche der Ständerat mit Zustimmung des Vorstehers des EJPD guthiess
[53]. Gleichzeitig überwies die kleine Kammer auch eine allgemeiner gehaltene Motion Schoch (fdp, AR) für eine grundlegnde Reform der Bundesrechtspflege
[54].
In das Sofortprogramm soll gemäss einer vom Ständerat überwiesenen Motion Zimmerli (svp, BE) auch die Bestimmung aufgenommen werden, dass das Bundesgericht nicht nur formal, sondern auch in
haltlich auf staatsrechtliche Beschwerden gegen kantonale Entscheide eintreten kann. Damit wäre Gewähr geboten, dass auch in Kantonen ohne eigenes Verwaltungsgericht die von Art. 6.1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geforderte vollständige Behandlung von Rekursen gegen staatliche Entscheide durch unabhängige richterliche Instanzen erfüllt werden kann. Bundespräsident Koller hatte sich vergeblich gegen diese Motion ausgesprochen, welche seiner Ansicht nach auf unzulässige Weise in die kantonale Verfahrenshoheit eingreift
[55].
Organisation der Bundesrechtspflege. Abstimmung vom 1. April 1990
Beteiligung: 40,7% Nein: 863 524 (52,7%) Ja: 775 870 (47,3%)
Parolen:
Nein: SP (1*), GPS, LdU, SD (2), POCH, PdA, GBS; SGB, CNG; Konsumentenbund, Mieterverband.
Ja: FDP, CVP (6), SVP (5), LP (1*), AP; Redressement National.
Stimmfreigabe: EVP (3 Nein, 2 Ja*)
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Bei der Bestätigungswahl für die dreissig Bundesrichter durch die Bundesversammlung ist es nicht üblich, dass vorher im Plenum diskutiert wird. Die Öffentlichkeit war deshalb überrascht, als am 5. Dezember
Bundesrichter Schubarth nur 95 Stimmen erhielt und damit das absolute Mehr von 116 Stimmen deutlich verfehlte. Zwar hatte im Vorfeld der Wahl die Vereinigung Pro Tell, welche sich gegen eine strengere Waffengesetzgebung einsetzt, Schubarth attackiert, die Begründung der Parlamentarier für diese Nichtwahl wurde hingegen erst nachträglich publik. Bürgerliche Abgeordnete warfen dem Sozialdemokraten Schubarth nicht etwa mangelnde Qualifikation vor, sondern sein generelles Rechtsverständnis, welches gemäss dem Aargauer Fischer (fdp) "illegale Aktionen, beispielsweise Geländebesetzungen" befürworte und rechtfertige. Nicht nur die SP, sondern auch die Schweizerische Richtervereinigung protestierte heftig gegen die Abwahl des fachlich unbestrittenen Schubarth. Bei der am 12. Dezember durchgeführten Wahl für den noch nicht besetzten Bundesrichtersitz wurde er von der Wahlvorbereitungskommission nochmals portiert und diesmal mit 127 von 233 Stimmen (bei einem absoluten Mehr von 105) gewählt
[56]
.
[48] Bund, 27.2.90; NZZ, 15.3.90 (Kölz); Plädoyer, 8/1990, Nr. 3, S. 32 f. Vgl. SPJ 1989, S. 34. Zur Arbeitslast siehe Gesch.ber. 1990, S. 464 ff. Zu der unter Staatsrechtlern umstrittenen Verfassungskonformität des Vorprüfungsverfahrens siehe NZZ, 20.3.90.
[49] NZZ, 9.3. und 15.3.90.
[51] BBI, 1990, 11, S. 1028 ff.; Presse vom 2.4.90.
[52] Vox, Analyse der eidg. Abstimmung vom 1. April 1990, Genf und Zürich 1990.
[53] SZ, 11.4. und 25.4.90 (Revisionsgegner und Bundesrichter); Amtl. Bull. StR, 1990, S. 690 ff. (Motion). Eine parlamentarische Initiative mit gleicher Stossrichtung ist auch von StR Rhinow (fdp, BL) eingereicht worden (Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 38). Siehe auch SZ, 19.11.90.
[54] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 692 f.
[55] Amtl. Bull. StR, 1990, 5.693 ff. Zu einem Urteil im Zusammenhang mit Art. 6.1 der EMRK siehe SPJ 1988, S. 22 (Fall Belilos).
[56] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2520 ff.; Presse vom 6.12.90; Vat., 10.12.90; NZZ, 13.12.90.
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