Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin
Als Erstrat befasste sich die kleine Kammer mit der Volksinitiative "gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie beim Menschen". Gleich wie der . Bundesrat empfahl auch der Ständerat, die Initiative abzulehnen. Er stimmte dem Gegenvorschlag des Bundesrates zwar zu, wollte aber in stärkerem Masse die Anliegen der Initianten berücksichtigen und beschloss, im Humanbereich bereits auf Verfassungsstufe konkrete Verbote festzuschreiben. Unter anderem sollen Manipulationen am Erbgut menschlicher Keimzellen, die Beeinflussung der künstlichen Fortpflanzung mit dem Ziel, nach bestimmten Selektionskriterien besondere Eigenschaften herbeizuführen, sowie alle Arten von Leihmutterschaft untersagt werden. Gemäss dem Ständerat darf das Erbgut einer Person nur mit deren Zustimmung oder auf gesetzliche Anordnung hin untersucht, registriert oder offenbart werden, und ihr muss Zugang zu den Daten über ihre Abstammung gewährt werden. Nicht gestattet wären die Verschmelzung von menschlichem und tierischem Keim- und Erbgut sowie die Kommerzialisierung des Keim- und Erbgutes. Die pränatale Diagnostik soll weiterhin gestattet sein, ebenso die In-vitro-Fertilisation, letztere aber nur als ultima ratio, wenn die Unfruchtbarkeit nicht anders behandelt werden kann [26].
Die vorberatende Nationalratskommission ging noch weiter. Sie verstärkte die Bestimmungen insofern, als neben der Leihmutterschaft auch deren Vermittlung sowie die Embryonenspende untersagt werden sollen. Zudem dehnte sie auch die Grundsatzklausel aus: Der Bund hat nicht nur Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen zu erlassen, sondern auch der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung zu tragen und die genetische Vielfalt zu schützen.
Die Kommission beschloss gleichzeitig, ihre Arbeiten an der umstrittenen Revision des Patentrechts zu sistieren bis der Nationalrat Gelegenheit habe, sich zu den Grundsätzen der Initiative und des Gegenvorschlags zu äussern. Bis dahin setzte sie auch ihre Beratungen über die Parlamentarische Initiative Ulrich (sp, SO) aus, die Genomanalysen verbieten will. Da sich die Arbeiten des Parlaments voraussichtlich noch über einen längeren Zeitraum erstrecken werden, forderte Nationalrat Nussbaumer (cvp, SO) den Bundesrat in einem Postulat auf, den Räten einen Überbrückungsbeschluss vorzulegen [27].
Fragen der Sicherheit bei der Genmanipulation und der Freisetzung von genetisch veränderten Lebewesen standen im Zentrum der neu im Nationalrat eingereichten Vorstösse. Mit drei Motionen will der Basler Nationalrat Baerlocher (poch) ein Verbot von gentechnologisch hergestellten Lebensmitteln, ein Verbot der Freisetzung von gentechnisch manipulierten Lebewesen und eine Umweltverträglichkeitsprüfung für bio- und gentechnologische Anlagen erreichen [28].
Wichtig im Hinblick auf die kommenden Weichenstellungen dürfte sein, dass sich die drei grossen Bundesratsparteien ausführlich zur Gentechnologie äusserten. Die liberalste Position nahm dabei erwartungsgemäss die FDP ein. Grundtenor ihrer zwölf Thesen war, dass die positiven Aspekte der Gentechnologie zurzeit eher unterschätzt würden. Eine deutlich restriktive Haltung vertrat demgegenüber die SP. Ihrer Ansicht nach sollte die Gentechnologie nur dort erlaubt sein, wo sie nachweislich die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessert und jede Gefährdung von Mensch und Umwelt ausgeschlossen ist. Die CVP wollte strenger reglementieren als die FDP, aber weniger verbieten als die SP.
Konsens herrschte weitgehend in der Humangenetik, wo alle drei Parteien jede Veränderung am Erbmaterial und an frühen Keimzellen ablehnten. Die SP ging hier allerdings noch weiter und wollte jeden Zugriff auf menschliche Eizellen, also auch die In-vitro-Fertilisation und den Embryonentransfer verbieten. Bedingt ja sagten die Parteien zur pränatalen Diagnostik, zur somatischen Gentherapie und zur Genomanalyse, allerdings nur auf freiwilliger Basis und unter der Bedingung, dass diese Untersuchungen nicht als Mittel zur Auswahl von Stellenbewerbern oder zur Risikoverminderung im Versicherungswesen missbraucht würden.
Die Forschung und Anwendung der Gentechnologie bei Tieren und Pflanzen wollten die FDP und die CVP grundsätzlich zulassen, doch müssten vom Bund verbindlich geregelte Sicherheitsvorschriften und Bewilligungs- und Kontrollverfahren den Schutz von Mensch, Tier und Umwelt garantieren. Die SP war auch hier zurückhaltender. Insbesondere forderte sie ein Anwendungs- und Forschungsmoratorium, um den Rückstand der Okosystemforschung aufzuholen, sowie den Erlass eines strengen Gentechnologiegesetzes, dessen zentrale Punkte die Umkehr der Beweislast und das Verursacherprinzip sein müssten [29].
Interessant war die Entwicklung in einzelnen Kantonen deshalb, weil hier die Bevölkerung erstmals die Gelegenheit erhalten wird, ihre Meinung zur Gentechnologie an der Urne kundzutun. Der Basler Grosse Rat verabschiedete ein sehr restriktives Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin und unterstellte es mit knapper Mehrheit dem obligatorischen Referendum [30]. Im Kanton Thurgau wurde von einem Initiativkomitee bestehend aus EVP, GP, LdU und Nationalrepublikanischer Aktion Thurgau eine Gen-Initiative eingereicht, die jegliche gentechnologischen Eingriffe in die menschlichen Keimbahnen und damit ins Erbgut verhindern will [31].
 
[26] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 477 ff.; Presse vom 14.2.90; TA, 18.6.90; Presse vom 21.6.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 195 f. Stellungnahme der Eidg. Frauenkommission zu den Vorschlägen des StR: Frauenfragen, 1991, Nr. 1, S. 3 ff. Neue Richtlinien der Akademie der medizinischen Wissenschaften: TA, 9.6.90.
[27] Bund, 31.8.90; LNN, NZZ und TW, 15.11.90; Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 114. Zum Patentrecht siehe oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
[28] Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 66 f. In Basel, wo Ciba-Geigy ein Biotechnikum errichten will, wurden die Diskussionen über mögliche Sicherheitsrisiken besonders intensiv geführt: Ww, 11.1.90; BaZ, 12.1. und 31.1.90; LNN, 10.1 1.90. Aber auch gegen den für 1991 von der Eidg. Forschungsanstalt in Changins (FR) geplanten ersten Freisetzungsversuch wurden schon früh Bedenken laut (TA, TW und Vr, 2.11.90). Für die Fragen der Gentechnologie bei der Revision des Umweltschutzgesetzes und der Lebensmittelverordnung siehe oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires) und 6d (Législation sur la protection de l'environnement).
[29] CVP: Bio- und Gentechnologie. Ehrfurcht vor der Schöpfung!, Bern 1990; Presse vom 3.8.90. FDP: Politische Rundschau, 69/1990, Nr. 1/2; Presse vom 14.2. und 12.11.90. SP: Politische Grenzen der Gentechnologie, Bern 1990; U. Ulrich-Vögtlin, "Kein Zugriff auf die Schöpfung", in Rote Revue, 69/1990, Nr. 3, S. 14f.; Presse vom 3.3.90. Haltung der Gewerkschaften: Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 185 ff.
[30] BaZ, 3.3., 27.6., 19.9., 20.9., 27.9. und 19.10.90. Aus Kreisen der FDP und der LDP wurde beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde gegen das Gesetz eingereicht, da es mit seinem Verbot der In-vitro-Fertilisation nicht den 1989 vom Bundesgericht erlassenen Grundsätzen entspreche: BaZ, 27.11.90; siehe dazu auch SPJ 1989, S. 196. Die Abstimmung wird anfangs März 1991 stattfinden (BaZ, 28.12.90). Siehe auch Lit. Schiesser.
[31] SGT, 7.2. und 14.11.90.