Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Suchtmittel
Wie auch immer Drogenpolitik in der Schweiz gehandhabt wird, so gerät sie ins
Kreuzfeuer divergierender Standpunkte. Für die einen, in erster Linie die Vertreter der Autopartei und einen Teil der SVP, ist sie zu verständnisvoll und permissiv. Für die anderen, Sozialarbeiter und Politiker aus dem links-grünen Spektrum, ist sie zu stur und unmenschlich. Besonders deutlich wurde dies in den zum Teil sehr emotional geführten Diskussionen um die Fixerräume in den grossen Städten der deutschen Schweiz. Aber auch der Graben zwischen der Deutschschweiz und der Romandie vertiefte sich weiter, da sich die welschen Kantonen nach wie vor strikte weigerten, ihren Drogensüchtigen eine nicht repressive Infrastruktur anzubieten, wodurch diese in die Städte mit offener Szene – vorab Zürich und Bern – auswichen und so dort die Probleme noch verschärften
[32].
In Zürich konnten sich erstmals die Stimmbürger in einer
Abstimmung zur Drogenpolitik äussern. Das Resultat zeigte deutlich die zwiespältigen Gefühle der Bevölkerung gegenüber dem Drogenelend. Nur eine Minderheit von rund 37 % sprach sich für die Schaffung von drei Fixerräumen aus, aber 54,4% der Stimmenden befürworteten ein umfangreiches Paket sozialer Hilfsmassnahmen. Die unterschiedlichen Ergebnisse mehrerer Umfragen zeigten, dass es sehr schwierig ist, allgemeingültige Aussagen über die Haltung der Bevölkerung zu einer eventuellen Entkriminalisierung des Drogenkonsums zu machen
[33].
In diesem Klima der allgemeinen Verunsicherung wäre ein klärendes Wort des Bundesrates besonders nötig gewesen. Doch darauf wartete man bis Ende Jahr vergeblich, obgleich die Landesregierung bereits im Mai anlässlich einer Klausurtagung von der
Auswertung der Vernehmlassung zum Drogenbericht Kenntnis nahm und Bundesrat Cotti verschiedentlich eine baldige Stellungnahme versprach. Als Hauptgrund für diese Verzögerung wurde der Umstand angesehen, dass die Vernehmlassung zwar eine deutliche Mehrheit für die Entkriminalisierung des Drogenkonsums ergeben hatte – 15 Kantone und fünf Parteien (FDP, GB, GP, LdU und SP) waren dafür –, dass sich aber die welschen Kantone und der Tessin vehement dagegen aussprachen und sich zwei der vier Bundesratsparteien (CVP und SVP) ebenfalls deutlich reserviert zeigten
[34].
Auch das Parlament konnte sich in dieser Frage zu keiner eindeutigen Stellungnahme durchringen. Die parlamentarische Initiative Rechsteiner (sp, SG), welche die Straffreiheit des Drogenkonsums verlangte, hatte im Nationalrat zwar keine Chance, doch verabschiedete der Rat im Anschluss an dieses Geschäft eine Kommissionsmotion, mit welcher der Bundesrat beauftragt wurde, raschmöglichst eine
Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) vorzubereiten, ohne dass dabei aber die Stossrichtung präzisiert wurde. Bereits zuvor hatte die grosse Kammer ein Postulat Fierz (gp, BE) überwiesen, welches den Bundesrat auffordert, die Folgekosten des Drogenverbots beziffern zu lassen
[35]
. Der Ständerat seinerseits überwies klar eine Motion Bühler (fdp, LU), welche ebenfalls auf eine Revision des BtMG drängt. In beiden Fällen hatte der Bundesrat Umwandlung in ein Postulat beantragt
[36]
.
Klar zum Ausdruck kam hingegen, dass die Parlamentarier ein stärkeres Engagement des Bundes bei der Prävention wünschen. So wurde eine zu Beginn des Jahres von Nationalrat Rychen (svp, BE) und 106 .Mitunterzeichnern eingereichte Motion mit dem Auftrag, eine breitangelegte
nationale Kampagne gegen den Drogenmissbrauch nach dem Vorbild der Aids-Kampagne einzuleiten, rasch und diskussionslos von beiden Räten überwiesen
[37]
. Bereits im Herbst stellte das BAG seine diesbezüglichen Vorstellungen vor. Danach soll der Bund nach der Weiterbildungsoffensive nun eine 'Drogenoffensive' starten, ein auf 45 Mio Fr. veranschlagtes Fünfjahresprogramm im Bereich der Primärprävention. Gleichzeitig regte das Amt an, eine Dokumentations- und Informationsstelle einzurichten, wie dies im BtMG auch vorgesehen ist, und ein Nationales Forschungsprogramm (NFP) über Drogenfragen auszuschreiben
[38]
.
Immer häufiger ertönt auch der Ruf nach
ärztlich kontrolliertem Zugang zu Heroin. Sowohl die Basler Regierung als auch die neue Zürcher Stadtexekutive befürworteten die versuchsweise Abgabe, um damit die Verelendung der Konsumenten und die Beschaffungskriminalität einzudämmen. Zur Abklärung des Spielraums, den das geltende BtMG hier bietet, gab das BAG beim EJPD ein Gutachten in Auftrag. Dieses kam zum Schluss, eine Heroinabgabe in grösserem Rahmen wäre nicht zulässig, doch könnte sie in einem limitierten Versuch toleriert werden
[39]
.
Unter anderem aus Gründen der Europaverträglichkeit im Fernsehbereich wird der Bundesrat Volk und Ständen die Ablehnung der 1989 eingereichten
Zwillings-Initiativen empfehlen, die ein striktes Werbeverbot für alkoholische Getränke und Tabakwaren verlangen. Da er aber die Suchtprävention sehr ernst nehme, teilte Bundesrat Cotti der Presse mit, werde er auf Gesetzesebene einen
indirekten Gegenvorschlag ausarbeiten lassen. Ein totales Verbot komme dabei aber nicht in Frage. Aufgrund dieser Vorgaben war das Initiativkomitee nicht bereit, seine Begehren zurückzuziehen
[40].
Die Grundlage für den bundesrätlichen Gegenvorschlag wird das von der kleinen Kammer als Erstrat verabschiedete
revidierte Lebensmittelgesetz bieten, welches dem Bundesrat die Möglichkeit gibt, Tabak- und Alkoholwerbung insbesondere zum Schutz der Jugendlichen einzuschränken. Die vom Bundesrat vorgeschlagene unverbindliche Kann-Formulierung war dabei allerdings recht umstritten
[41]
.
Mit einer breit angelegten Kampagne wollen das BAG und die Verbindung der Schweizer Arzte (FMH) möglichst vielen Rauchern und Raucherinnen in der Schweiz den Ausstieg aus ihrer Sucht erleichtern. National- und Ständerat nahmen Kenntnis von der Petition des Raucher-Clubs, welche sich gegen derartige Präventionskampagnen wandte, gaben ihr aber diskussionslos keine Folge. Einen kleinen Erfolg konnten die Raucher insofern verbuchen, als das
Bundesgericht in
einer Versicherungsstreitfrage entschied, Nikotin sei keine Droge im Rechtssinn, könne also nicht zu einer Einschränkung des Versicherungsschutzes gemäss Art. 33 des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) führen
[42]
.
[32] St. Gallen: SGT, 6.4. und 26.6.90. Luzern: LNN, 27.1., 3.3., 20.4., 19.7., 21.7., 12.9., 9.10. und 23.11.90. Bern: Bund, 11.1., 19.1., 30.1., 19.6., 6.7., 19.7., 17.8., 9.11., 1.12. und 4.12.90. Zürich: TA, 23.10 und 2.11.90. Romandie: NZZ, 6.4.90; Presse vom 24.11. (Tagung des Schweizerischen Städteverbandes) und 27.12.90. Siehe dazu auch eine Interpellation Neukomm (sp, BE) im NR und die bundesrätliche Antwort darauf (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1933 f.).
[33] Zürich: Presse vom 3.12.90. Umfragen: Bund und Suisse, 26.4.90; Bund, TA und Suisse, 22.8.90; Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 1990, Nr. 10, S. 6.
[34] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 479, 1051 und 1934; NZZ, 18.5.90; Bund, 30.5.90. Presse vom 22.10.90; WoZ, 26.10.90; Bund, 6.11.90; BZ, 24.11.90. Zum Drogenbericht und zur anschliessenden Vernehmlassung siehe auch SPJ 1989, S. 197 f.
[35] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1598 ff. (Rechsteiner und Kommissionsmotion) und S. 705 (Fierz). Auf einer Informationstagung in Rüschlikon wurde dargelegt, dass die Entkriminalisierung des Drogenkonsums auch ökonomisch sinnvoll wäre, da die Repression und die mit dem illegalen Konsum verbundenen Folgekosten die Schweiz rund 500 Mio Fr. jährlich kosten (JdG und TA, 14.11.90; TW, 15.11.90; Vat, 20.11.90).
[36] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 789. Die Motion Bühler wurde im NR als Motion Zwingli (fdp, SG) eingereicht und von 86 bürgerlichen Parlamentariern und Parlamentarierinnen mitunterzeichnet (Verhandl. B.vers., 1990, IV, S. 142). Eine strengere Durchsetzung der Bestimmungen des BtMG möchte NR Aubry (fdp, BE) mit einem Postulat anregen (Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 67).
[37] Amtl. Bull. NR, 1990, 1251; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 932 f.
[38] BaZ, 29.9.90. Zum geringen Anteil der Forschung an den Gesamtkosten der Drogenbekämpfung siehe Lit. Danthine et al. und BZ, 29.12.90. Ende Jahr reichte NR Neukomm (sp, BE) eine Motion ein, die ein Institut für Drogenprävention verlangt (Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 112).
[39] Zürich: TA, 19.7.90; Basel: Bund, 13.10.90. Gutachten EJPD: Baz, 16.10.90; NZZ und JdG, 17.10.90. Für das Liverpooler-Modell, das dem Ruf nach freier Abgabe von Opiaten zugrundeliegt, weil dort die HIV-Rate der Drogenabhängigen weniger als 1 % beträgt, siehe BZ, 2.5.90 und 9.1.91; NZZ, 2.11.90.
[40] BBI, 1990, I, S. 923 ff. und 926 ff. (Zustandekommen der Initiativen); NZZ, 18.10. und 19.10.90; siehe auch SPJ 1989, S. 198 f. Für die Europaratskonvention über das grenzüberschreitende Fernsehen siehe unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).
[41] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 761 ff. Für die Revision des Lebensmittelgesetzes allgemein siehe oben, Teil 1, 4c (Produits alimentaires). Mit einem Postulat möchte NR Zwygart (evp, BE) den besseren Schutz der Jugend vor Tabakmissbrauch sicherstellen (Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 139).
[42] BAG/FMH: Presse vom 30.3.90. Petition: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1244; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 845 f. und 851. BG: NZZ, LM und Suisse, 19.7.90; "Drogenbegriff umfasst Nikotin nicht", in Zeitschrift für öffentliche Fürsorge, 87/1990, S. 159 f.
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