Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV)
Die Finanzierung der AHV durch das Umlageverfahren bringt es mit sich, dass das finanzielle Gleichgewicht der AHV wesentlich von der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Mit grossem Interesse wurde deshalb der 1989 in Auftrag gegebene zweite Demographiebericht des Bundesrates zur Kenntnis genommen. Die darin berechneten Szenarien lassen erwarten, dass die günstige Situation der AHV noch bis in die Mitte der 90er Jahre andauern dürfte. Die Jahre zwischen 1995 und 2005 könnten dann aber zu einer Umbruchphase für die AHV werden, doch sind aufgrund der sich nur relativ langsam ändernden Altersquotienten und der bestehenden Finanzierungsreserven noch keine grösseren Schwierigkeiten zu erwarten.
Ein eigentlicher Wendepunkt zeichnet sich um das Jahr 2005 ab. Die Zahl der Rentner wächst dann deutlich rascher, da die nach 1940 geborenen, geburtenstarken Jahrgänge rentenberechtigt werden. Als Folge der niedrigen Geburtenhäufigkeit eben jener Generation stagnieren andererseits die Bestände der beitragspflichtigen Bevölkerung und beginnen schliesslich zu sinken. Gleichzeitig erreichen die ausländischen Rentenansprüche erstmals das Niveau der Beitragszahlungen des ausländischen Bevölkerungsteils. Die Jahre 2005 bis 2015 könnten sich für die AHV deshalb als besonders kritisch erweisen. Ungefähr um 2035 wird sich der Alterslastquotient auf hohem Niveau stabilisieren, da auch die ins Rentenalter eintretenden Generationen wieder kleiner werden.
Abschliessend hielt der Bericht jedoch fest, Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritt, die Formel des Mischindexes sowie die Mitfinanzierung der öffentlichen Hand würden den Entscheidungsträgern auch in Zukunft einen nicht zu unterschätzenden Handlungsspielraum lassen
[12]..
Dieser zweite Demographiebericht war – in gekürzter Form – Bestandteil der Botschaft des Bundesrates zur 10. AHV-Revision, welche der zuständige Departementsvorsteher Cotti im März der Öffentlichkeit vorstellte. Vor allem von Frauenseite waren grosse Erwartungen in diese Revision gesetzt worden, die den Verfassungsauftrag der Gleichstellung der Geschlechter umsetzen sollte. Beträchtlich war dann aber die Enttäuschung, als feststand, dass zwar punktuelle Verbesserungen zugunsten der Frauen Eingang in den Gesetzesvorschlag gefunden hatten (Besserstellung der geschiedenen Frauen und der alleinerziehenden Mütter, geschlechtsunabhängiger Anspruch von Mann und Frau bei der Ehepaarrente), dass aber die wichtigsten Forderungen der Frauen (zivilstandsunabhängige Renten, Einkommenssplitting, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, flexibles Rentenalter für Frauen, Angleichung des Rentenalters Mann/ Frau) nicht berücksichtigt worden waren.
Aus Kostengründen will der Bundesrat am Rentenalter 65 für Männer festhalten, doch soll ihnen generell ab 62 Jahren der flexible Altersrücktritt offenstehen, allerdings mit einer Kürzung der Rente um 6,8% pro Jahr Vorbezug. Damit sich nicht nur Wohlhabende einen früheren Ruhestand leisten können, soll der vorzeitige Bezug von Ergänzungsleistungen möglich werden. Bessergestellt werden auch die Witwer, die neu eine Witwerrente erhalten, allerdings nur dann, wenn sie Kinder unter 18 Jahren zu versorgen haben.
Bundesrat Cotti unterstrich besonders die gezielte Anhebung der Renten für die Versicherten mit niedrigem Einkommen. 112 000 Ehepaar- und 358 000 Einzelrenten würden heraufgesetzt, was einer Besserstellung von mehr als der Hälfte allerRentenbezüger entsprechen würde. Mit der vorgesehenen Finanzierung dieser Verbesserungen (Abweichung von der früher anvisierten Kostenneutralität, Erhöhung des Beitragssatzes der Selbständigerwerbenden) zog sich die Landesregierung allerdings umgehend den Zorn der Gewerbekreise zu.
Beobachter waren allgemein der Ansicht, dem Bundesrat sei mit dieser Revision kein sozialpolitischer Wurf gelungen; diese 10. Anpassung – deren Inkrafttreten 1994 erfolgen könnte – trage bereits den Kern einer 11. Revision in sich. In Beantwortung einer dringlichen Interpellation Reimann (sp, BE) gab der Vorsteher des EDI selber zu, dass in dieser Revision die grossen Probleme noch nicht angepackt worden seien. Und auch die Parteien zeigten sich – wenn auch aus verschiedenen Gründen – mit Ausnahme der CVP alles andere als zufrieden.
Die bürgerlichen Parteien, die Arbeitgeberorganisationen und der Gewerbeverband übten recht harsche Kritik am Abgehen von der Kostenneutralität und an der Beibehaltung des tieferen Rentenalters für die Frauen. Die verhältnismässig geringfügigen Änderungen und Neuerungen rechtfertigten die hohen Mehrausgaben nicht, teilte die FDP mit. Auch die SVP war der Ansicht, der vorgesehene Leistungsausbau sei angesichts der Mehrkosten nicht zu verantworten. Und der Gewerbeverband drohte gar offen mit dem Referendum, falls das Parlament die Beitragserhöhungen für die Selbständigerwerbenden gutheissen sollte.
Die SP, die
Gewerkschaften und die Grü
nen begrüssten zwar die angestrebte Besserstellung der Rentner mit geringem Einkommen, bedauerten aber, dass der Bundesrat die gebotene Gelegenheit zur tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter verpasst habe, und wiesen darauf hin, dass auch mit den angestrebten Verbesserungen das Problem der existenzsichernden Renten weiterhin ungelöst bleibe
[13].
Am meisten Widerstand erwuchs dem Gesetzesvorschlag aber wie erwartet von Frauenseite. Eine Arbeitsgruppe, welcher sieben der repräsentativsten
Frauenverbände angehörten, legte auf einer Pressekonferenz dar, weshalb sie der 10. AHVRevision den Kampf ansagen und eventuell auch vor einem Referendum nicht zurückschrecken wolle. Ihre Hauptforderung war die einer zivilstandsunabhängigen AHV mit Betreuungsbonus
[14].
Trotz divergierender Ansichten beschloss die zuständige
Ständeratskommission auf die Vorlage einzutreten. Ein Rückweisungsantrag der SP-Vertreter, die das gleiche Rentenalter für Mann und Frau und das Rentensplitting verlangten, scheiterte klar. Die Kommission übernahm in der Folge die Vorschläge des Bundesrates nahezu vollständig. Als einzige wichtige Anderung gegenüber dem bundesrätlichen Entwurf lehnte sie eine Erhöhung des Beitragssatzes für die Selbständigerwerbenden ab
[15].
Im
Parlament wurden mehrere Eingaben zur 10. AHV-Revision eingereicht mit dem Ziel, durch Verbesserungen bei der Beitragsleistung höhere Renten zu erreichen. Die beiden Zürcher Freisinnigen Spoerry und Allenspach wollten so die Alimente geschiedener Frauen und die AHVBeiträge erwerbstätiger Personen im Rentenalter in die Berechnung der Renten einbeziehen, während die Grüne Fraktion Betreuungsgutschriften für die unentgeltliche Pflege von Angehörigen verlangte. Alle drei Vorstösse wurden als Postulat überwiesen
[16]..
Weil die EL immer wichtiger geworden seien und durch die 10. AHV-Revision voraussichtlich noch mehr Bedeutung erhalten werden, forderte Ständerat Hänsenberger (fdp, BE) den Bundesrat in einer Motion auf, die
verfassungsmässige Grundlage der EL neu zu fassen. Der Vorstoss wurde gegen den Willen des Bundesrates in der verbindlichen Form überwiesen
[17].
Nur als Postulat überwiesen wurde eine Motion Keller (cvp, AG), welche eine Verbesserung der Ergänzungsleistungen und eine einheitliche zehnjährige Karenzfrist für Ausländer und Flüchtlinge verlangte
[18]..
Nach ihrem deutlichen Scheitern in der vorberatenden Kommission wurde die parlamentarische Initiative Spielmann (pda, GE), welche für 1989 die Ausrichtung einer 13. AHV/IV-Rente gefordert hatte, ebenfalls im Plenum abgelehnt. Hingegen überwies der Rat ein Postulat der Kommission, mit welchem der Bundesrat aufgefordert wurde, zu prüfen, ob ab 1991 den EL-Bezügern jährlich zusätzlich eine
13. Ergänzungsleistung ausgerichtet werden könnte
[19] .
Der Rat lehnte ebenfalls eine weitere parlamentarische Initiative Spielmann, welche punktuelle Verbesserungen für die Bezüger von EL verlangte, mit dem Hinweis darauf ab, dass eine wesentliche Forderung des Initianten (Aufhebung des Selbstbehalts bei Krankheitskosten) bereits realisiert sei, dass andere Elemente der Initiative (Anderung der Berechnung des massgeblichen Einkommens) zu Ungleichheiten zwischen Rentnern führen würde. Im Anschluss an dieses Geschäft überwies der Rat auf Antrag der Kommission ein Postulat für eine bessere
Information der Rentner und Rentnerinnen über ihre Ansprüche
[20].
Seit der 9. AHV-Revision gilt, dass die AHV/IV-Renten nur alle zwei Jahre der Teuerung angepasst werden, es sei denn, diese betrage im Zwischenjahr mehr als 8%. Als im Laufe des Sommers klar wurde, dass die Preissteigerungen zwar nicht den erforderlichen Prozentsatz, aber doch ein hohes Niveau erreichen würden, mehrten sich die Stimmen, die ausser
Turnus den Teuerungsausgleich für 1991 wollten. Den Auftakt machte Ende August der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) mit einem Brief an den Bundesrat. In den Räten erhielt das Anliegen Unterstützung in Form von zwei gleichlautenden Motionen Piller (sp, FR) und Reimann (sp, BE), die den jährlichen Teuerungsausgleich verlangten und die beide in der Wintersession als Postulat überwiesen wurden
[21]..
Als klar war, dass auch die bürgerlichen Parteien einen Teuerungsausgleich bereits per 1.1.1991 unterstützen würden, beschloss der Bundesrat, dem Parlament noch vor Jahresende zu beantragen, den AHV/IV-Rentnern 1991 eine
Zulage zu gewähren, die im April und August 1991 in zwei Raten ausbezahlt werden und dem Stand der Teuerung (Landesindex der Konsumentenpreise) vom Monat Dezember 1990 entsprechen soll. Die Kosten wurden auf rund 1,2 Mia Fr. geschätzt, wovon rund 1135 Mio zulasten der Sozialversicherungen gehen, der Rest zulasten des Bundesbudgets 1991. Ende Oktober legte der Bundesrat die entsprechende Botschaft vor, in der Wintersession stimmten die Räte der Vorlage
einstimmig zu. Gleichzeitig lehnten sie eine Standesinitiative des Kantons Jura ab, die eine einheitliche Erhöhung aller AHV/IV-Renten und eine Überprüfung der Minimalrenten verlangt hatte
[22]..
Ebenfalls noch vor Ablauf des Jahres legte der Bundesrat eine Botschaft für die Revision von Art. 33ter des AHV-Gesetzes vor. Für die Rentenanpassung will die Regierung am Grundsatz der Zweijährigkeit festhalten, doch soll mit einer flexiblen Ausnahmeregelung — Leistungsanpassung bei einer Jahresteuerung von mindestens 4% — die Vornahme einer einjährigen Anpassung erleichtert werden. Für die Berechnung der Rentenerhöhungen wird weiterhin am Mischindex festgehalten, bei dem sowohl der Landesindex der Konsumentenpreise wie die Biga-Lohnstatistik berücksichtigt werden. Im Sinn einer weiteren Harmonisierung der Sozialversicherungen sollen künftig auch die Renten der Unfallversicherung und die Hinterlassenen- und Invalidenrenten der obligatorischen beruflichen Vorsorge im gleichen Zeitpunkt wie die AHV/IV-Renten der Inflation angepasst werden, wobei hier allerdings nur auf den Preisindex abgestellt wird.
Nach Auskunft des Bundesrates ist durch diese Neuerung mit einer jährlichen Mehrbelastung für die AHV von 110 Mio Fr. zu rechnen, wobei 19 Mio auf den Bund, 3 Mio auf die Kantone und der Rest auf die Betriebsrechnung der AHV entfallen. Auf Beitragserhöhungen wird verzichtet
[23]. Dass die betroffenen Sozialwerke dies momentan verkraften können, zeigte ihr
Rechnungsabschluss für 1990: Dank guter Wirtschaftslage konnten die AHV, die IV und die Erwerbsersatzordnung (EO) ihren Überschuss auf 2,5 Mia Fr. steigern
[24].
[12] Presse vom 19.4.90; SHZ, 10.5.90; ZAK, 1990, S. 218 ff.; siehe dazu auch SPJ 1989, S. 184. Ob das vom BR angenommene jährliche Wirtschaftswachstum von rund zwei Prozent auch tatsächlich realistisch sei, wurde von Experten zum Teil angezweifelt (Bund, 7.5.90).
[13] BBl, 1990, II, S. I ff.; Presse vom 17.3.90; "Die Anträge des Bundesrates zur 10. AHV-Revision", ZAK, 1990, S. 154 ff. und 189 f. Vgl. auch BR Cotti in Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1574 und 1583 f.
[14] Presse vom 19.10.90; SZ, 31.12.90 (Interview Cotti); Lit. Haller. Eine Motion Haller (sp, BE), welche die Einführung zivilstandsunabhängiger Renten verlangte, wurde, da seit zwei Jahren unbehandelt, abgeschrieben (Verhandl. B.vers.,1990, IV, S. 88).
[15] NZZ, 19.10. und 26.10.90.
[16] Amtl. Bull., 1990, S. 1259 f. (Postulat Spoerry), 1261 (Postulat Allenspach) und 1252 (Motion Grüne Fraktion). Ebenfalls im Rahmen der 10. AHVRevision reichte die Grüne Fraktion eine weitere Motion ein, die verlangt, dass pflegebedürftigen Betagten, die zu Hause betreut werden und die so einen Heim- oder Spitalaufenthalt vermeiden können, ein angemessenes Taggeld ausbezahlt wird (Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 56).
[17] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 1061 f. Siehe dazu auch "Statistik der Bezüger von Ergänzungsleistungen", ZAK, 1990, S. 367 ff.
[18] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1254 f.; Aktiv, 1990, Nr. 7, S. 4.
[19] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1574 f. Siehe auch SPJ 1989, S. 205. Die Ausrichtung einer 13. AHV/IVRente verlangte auch eine Petition aus dem Tessin, welche mit 25 000 Unterschriften an den BR eingereicht wurde (Suisse, 3.9.90).
[20] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1576 ff. Siehe auch SPJ 1989, S. 205.
[21] TW, 31.8.90; NZZ, 4.9., 15.9., 18.9.90. Ausführungen Cottis zu den Intentionen des BR: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1583 ff. Motion Piller: Amtl. Bull. StR, 1990, S. 1060. Motion Reimann: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2420.
[22] Parteien: BZ, 18.9.90. Entscheid BR: Presse vom 25.9.90. Vorlage: BBI, 1990, III, S. 919 ff. und 1779 f.; Amtl. Bull. StR, S. 866 ff. und 1103; Der NR weigerte sich, in diesem Zusammenhang das Postulat seiner Kommission für eine 13. EL abzuschreiben: Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2176 ff. und 2498.
[23] BBl, 1991, 1, S. 217 ff. Die Berechnungen des BR gehen von den 1990 geltenden Bestimmungen aus, tragen der 10. AH V-Revision also noch keine Rechnung und beruhen auf den Rechnungsergebnissen von 1989.
[24] Die AHV/IV-Rentenanpassung, die schliesslich 6,6% betrug, ist in diesen Zahlen bereits eingerechnet (Bund, 9.3.91).
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