Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Krankenversicherung
Sechs Jahre nach dem Nationalrat schrieb auch der Ständerat eine Standesinitiative des Kantons Waadt von 1968 ab, welche die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auf Bundesebene angeregt hatte [42]..
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Krankenkasseninitiative
In der Frühjahrssession beschloss der Ständerat auf die Weiterverfolgung seines materiellen Gegenvorschlags zur Volksinitiative "für eine finanziell tragbare Krankenversicherung" zu verzichten und auf den nationalrätlichen Kompromissvorschlag einzuschwenken. Einstimmig hiess die kleine Kammer die Erhöhung der Bundesbeiträge an die Krankenkassen um jährlich rund 300 Mio auf 1,3 Mia Fr. von 1990 bis 1994 gut. Das Konkordat der Schweizerischen Krankenkassen (KSK), welches die Initiative eingereicht hatte, war mit diesem indirekten Gegenvorschlag nicht zufrieden und zog ihr Begehren nicht zurück [43].
Aufgrund dieses Finanzierungsbeschlusses konnte der Bundesrat zwei Pakete von Verordnungsänderungen verabschieden, mit denen neue Leitplanken bis zum Inkrafttreten eines revidierten Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes (KUVG) gesetzt werden sollen. Rückwirkend auf den 1.1.1990 und für einen Zeitraum von fünf Jahren wurde so eine Neuverteilung der Bundeszuschüsse an die Krankenkassen vorgenommen. Die Einteilung der erwachsenen Versicherten in verschiedene Altersgruppen mit abgestuften Zuschüssen ermöglicht eine Verlagerung der Subventionierung hin zur älteren Generation. Zudem verfügte der Bundesrat, dass ab 1.1.1992 innerhalb einer bestimmten Region die höchste Prämie einer Kasse nicht mehr das Dreifache, sondern nur noch das Doppelte der niedrigsten Prämie für Erwachsene betragen darf [44].
Im Sinn weitergehender Massnahmen zur Kosteneindämmung setzte der Bundesrat im Dezember die Jahresfranchise für Versicherte auf neu 150 Fr. fest, die traditionelle Quartalsfranchise von zuletzt 50 Fr. wurde abgeschafft, der Selbstbehalt von 10% des die Franchise übersteigenden Betrags beibehalten. Im Bereich der Kollektivversicherungen verfügte er, dass die Versicherten auch bei alters- oder invaliditätsbedingtem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sowie bei Arbeitslosigkeit weiterhin mit ihren Familienangehörigen dem Kollektivvertrag angehören können. Weiter wurden die Beitragsunterschiede zwischen den einzelnen Regionalstufen und den Eintrittsaltersgruppen gleichmässiger auf alle Versicherten einer Kasse verteilt und festgehalten, dass die Prämien der Kollektivversicherung die Minimalprämien der Einzelversicherung nicht unterschreiten dürfen [45].
Weiter als die Regierung, nämlich bis zum Verbot der Kollektivversicherungen und der Einführung eines Lastenausgleichs zwischen den Krankenkassen, wollte eine Motion Reimann (sp, BE) gehen. Dem hielt der Bundesrat entgegen, dass eine Revision des KUVG in Gange sei und es ihm nicht opportun erscheine, einzelne Teile aus dem Gesamtpaket herauszubrechen. Die grosse Kammer folgte dieser Argumentation und überwies die Motion als Postulat [46].
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Totalrevision des Krankenversicherungsgesetzes
Der Überbrückungsvorschlag des Nationalrates war auch deshalb zustande gekommen, weil im Spätsommer 1989 bekannt geworden war, dass der Bundesrat eine Expertenkommission eingesetzt hatte mit dem Auftrag, aufgrund verschiedener Vorgaben Vorschläge zu einer Totalrevision des KUVG auszuarbeiten [47]..
Die von Ständerat Otto Schoch (fdp, AR) geleitete Kommission präsentierte ihren Gesetzesentwurf Mitte Dezember der 0ffentlichkeit. Sie befürwortete eine obligatorische Krankenpflegeversicherung für die gesamte Bevölkerung, gleiche Prämien für Mann und Frau, für Junge und Alte, völlige Freizügigkeit für alle Versicherten und einen Lastenausgleich zwischen den einzelnen Kassen.
Im Bereich der Leistungen schlug die Kommission Verbesserungen für die Versicherten vor: Die Beschränkung der Leistungsdauer für Spitalpflegeaufenthalte — heute 720 Tage — sollte entfallen, Hauskrankenpflege, Prävention und Zahnbehandlungen im Zusammenhang mit schweren Erkrankungen neu von den Kassen vergütet werden. Trotz Ausbau der Leistungen erachtete die Kommission ihren Gesetzesentwurf als Beitrag zur Kostendämpfung, da die Versicherten durch grössere Transparenz bei den Abrechnungen, einen auf 15% angehobenen Selbstbehalt und das Angebot alternativer Versicherungsformen (HMO) verantwortungsbewusster werden sollten. Im Gegenzug müssten sich die Anbieter — in erster Linie Ärzte und Spitäler — einer Kontrolle der Wirtschaftlichkeit ihrer Leistungen unterziehen.
Nach den Vorstellungen der Kommission soll die Krankenversicherung weiterhin durch Kopfprämien und Beiträge der öffentlichen Hand finanziert werden. Die Bundessubventionen sollen neu zu einem Drittel für Mutterschaftsleistungen und den Ausgleich der höheren Betagten-Kosten eingesetzt werden und zu zwei Dritteln für individuelle Prämienverbilligungen für Personen, deren Familienprämie einen bestimmten prozentualen Anteil ihres Einkommens und Vermögens übersteigt. Im Vordergrund der Diskussionen stand hier ein Prozentsatz von 7%, was heissen würde, dass über die Hälfte der Bevölkerung in den Genuss dieser Subventionen käme. Damit könnten auch sozial Schwächere die durch den Leistungsausbau notwendig werdende Erhöhung der Prämien um durchschnittlich 24% für Männer und 12% für Frauen verkraften.
Die Vorschläge der Kommission Schoch wurden von den Parteien recht freundlich aufgenommen. Für die FDP gingen die angestrebten Reformen in die richtige Richtung, auch wenn die relativ beschränkte Kostenkontrolle zu einem weiteren Anstieg der Gesundheitskosten führen werde. Die CVP begrüsste mit Blick auf den Solidaritätsgedanken das Obligatorium sowie die gezielte Prämienverbilligung durch den Bund. Dem Obligatorium skeptisch gegenüber stand hingegen die SVP, welche zudem bemängelte, kostendämpfende Elemente seien zu wenig berücksichtigt worden. Mit ihrer Kritik befand sie sich auf derselben Linie wie der Gewerbe- und der Arbeitgeber-Verband.
SP und Gewerkschaftsbund zeigten sich erfreut über die Einführung des Obligatoriums und die angestrebten Prämienentlastungen für einkommensschwache Personen. Sie bedauerten aber, dass mit der vorgeschlagenen Erhöhung des Selbstbehalts die Kostenfolgen erneut auf die Versicherten überwälzt würden und verlangten weitergehende gezielte Prämienverbilligungen. Zudem erinnerten sie daran, dass eine von ihnen 1986 eingereichte Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung", welche unter anderem die Kopfprämien durch Lohnprozente ersetzen will, nach wie vor hängig ist.
Bundesrat Cotti zeigte sich ebenfalls zufrieden mit der Arbeit der Kommission Schoch. Er kündigte an, dass ein Revisionsentwurf im Februar 1991 in die Vernehmlassung gehen soll. Die definitive Vorlage will der Bundesrat spätestens im Herbst 1991 präsentieren, also noch vor der Abstimmung über die beiden hängigen Krankenkassen-Initiativen [48].
 
[42] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 177.
[43] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 172 ff. und 275; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 757 f.; BBI, 1990, I, S. 1594 f.; Presse vom 16.3.90; NZZ, 24.3.90 und Bund, 16.6.90 (KSK). Siehe auch SPJ 1989, S. 209.
[44] AS, 1990, S. 1673 ff.; Presse vom 18.10.90.
[45] AS, 1991, S. 17 ff. und 606 ff.; Bund und NZZ, 4.12.90; TA, 31.12.90.
[46] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1897 f.
[47] Siehe SPJ 1989, S. 209 f. Weil er den Vorschlägen dieser Kommission nicht vorgreifen wollte, nahm der StR von einer Petition, die eine Einführung des Krankenkassenobligatoriums verlangte, zwar Kenntnis, gab ihr aber keine Folge (Amtl. Bull. StR, 1990, S. 178). Im NR konnte ein Postulat Dormann (cvp, LU), das die Einführung einer obligatorischen Taggeldversicherung für Arbeitnehmer anregte, nicht überwiesen werden, da es von NR Allenspach (fdp, ZH) bekämpft wurde (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2432).
[48] Presse vom 18.12.90. Die LPS hatte sich bereits anlässlich ihres Kongresses im September für die Einführung des Krankenkassen-Obligatoriums und für eine separate Mutterschaftsversicherung ausgesprochen (Suisse, 9.9.90; Opinion libérale, 1990, Nr. 31, S. 5 ff.). Baselstadt, mit seiner OKK seit Jahrzehnten Pionier im schweizerischen Krankenkassenwesen, gab sich in einer Volksabstimmung ein neues Krankenversicherungsgesetz, welches die wichtigsten Vorschläge der Kommission Schoch (Obligatorium, Prämiengleichheit für Frauen und Männer, Lastenausgleich zwischen den Kassen) festschreibt (BaZ, 23.3. und 2.4.90).