Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Ausländerpolitik
Umfragen belegten, dass sich das Klima in der Schweiz gegenüber Ausländerinnen und Ausländern in den letzten Jahren
markant verschlechtert hat. Über 90% der Befragten vertraten die Ansicht, der Ausländeranteil dürfe nicht mehr weiter ansteigen. Während 1980 noch 61 % die Anwesenheit der Ausländer als eher positiv erlebten, waren es im Berichtsjahr nur noch 41%. Deutschschweizer, ältere Menschen und Jugendliche erwiesen sich als besonders wenig offen für Menschen aus anderen Kulturkreisen. 61% – gegenüber 53% im Vorjahr – erachteten die Anzahl der Asylbewerber als untragbar, wobei hier Personen zwischen 55 und 74 Jahren und Arbeiter besonders empfindlich reagierten
[2].
Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit will sich die
siebte Überfremdungsinitiative "gegen die Masseneinwanderung von Ausländern und Asylanten" zunutze machen, die von einer Minderheit der SD (ehemals NA) lanciert wurde. Gemäss diesem Volksbegehren soll die Zahl der jährlich zum Daueraufenthalt einreisenden Ausländer auf die Hälfte der im Vorjahr definitiv ausgereisten Personen reduziert werden. Von dieser Begrenzung ausgenommen wären Lehrbeauftragte an höheren Lehranstalten, qualifizierte Wissenschafter sowie das Spital und Pflegepersonal. Im weiteren verlangen die Initianten, dass die Niederlassungsbewilligung keinem Ausländer vor Ablauf von zehn Jahren erteilt werden darf Die Mehrheit der SD wollte die Initiative nicht mittragen, da sie der Ansicht war, so kurz nach der Abstimmungsniederlage vom Dezember 1988 sei es unklug und unrealistisch, schon wieder mit demselben Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten
[3]
.
Die SD blieben dennoch nicht inaktiv. Ende Jahr lancierten sie eine
Volksinitiative "für eine vernünftige Asylpolitik", mit
welcher sie erreichen möchten, dass Asylsuchenden grundsätzlich nur noch vorübergehend Asyl gewährt und eine Maximaldauer des Verfahrens von sechs Monaten in der Verfassung festgeschrieben wird. Beschwerden gegen einen negativen Asylentscheid sollten nicht mehr statthaft sein. Da der neu zu schaffende Artikel 69quater der Bundesverfassung gegen das Prinzip des non-refoulement verstossen dürfte, sieht die Initiative in den Übergangsbestimmungen gleich auch noch die Aufkündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge vor
[4].
Angesichts der fremdenfeindlichen Tendenzen, die sich primär in verbalen, nicht selten aber auch in handgreiflichen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte oder einzelne Asylbewerber äusserten, begann das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) Ende Jahr, die Opportunität einer landesweiten
Anti-Rassismus-Kampagne abzuklären. Das Zuger Stadtparlament ging hier bereits voran und überwies, gegen den Willen der Stadtregierung, eine Motion der Sozialistisch-Grünen Alternative, welche die Durchführung einer Informationskampagne verlangte mit dem Ziel, den Fremdenhass abzubauen und Einheimische, Immigrantinnen und Immigranten sowie Asylsuchende einander näherzubringen. In die gleiche Richtung zielte auch die Kampagne der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), die unter dem Motto "Mach mit! Gib dem Rassismus keine Chance!" Jugendliche und Erwachsene aufrief, sich in ihrem Umfeld für eine Gesellschaft einzusetzen, die alle Menschen achtet
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Die lauten fremdenfeindlichen Töne verdeckten etwas die Sicht darauf, dass sich auch immer mehr
Schweizer mit den Flüchtlingen solidarisieren. In mehreren Ortschaften und Kantonen entstanden Gruppen, die sich — zum Teil mit Erfolg — gegen die Ausschaffung von Einzelpersonen oder Familien zur Wehr setzten. So begründeten etwa zwei Frauen im Kanton Bern ihren Entschluss, einem abgewiesenen Kurdenehepaar Unterschlupf zu gewähren, mit Widerstand gegen Willkür — und wurden vor Gericht freigesprochen
[6]
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[2] NZZ, 17.4.90; SKA-Bulletin, 1990, Nr. 10, S. 7 f. In einer weiteren Umfrage zeigte sich, dass 42% der befragten Personen die Anzahl der in der Schweiz lebenden Flüchtlinge überschätzte (NZZ, 10.7.90). Eine Studie der Universität Zürich kam zum Schluss, dass steigende Ausländerzahlen weder ein notwendiger noch ein hinreichender Erklärungsgrund für Fremdenfeindlichkeit sind, und dass vielmehr die periodisch wiederkehrenden Identitätskrisen moderner Gesellschaften zu Phasen von Überfremdungsängsten führen (SZ, 27.1.90; Bund, 12.9.90; LNN, 14.11.90).
[3] BBl, 1990, I, 929 ff.; SPJ 1988, S. 211 ff.; Bund, 4.11. und 6.11.89.
[4] BBl, 1991, I, S. 106 ff.; NZZ, 5.12.90.
[5] Zug: WoZ, 16.3.90. SAJV: Bund, 14.9.90. BFF: Bund, 17.11.90. Zum Vernehmlassungsverfahren über den Beitritt der Schweiz zum internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und über eine entsprechende Strafrechtsrevision siehe oben, Teil 1, lb (Grundrechte).
[6] Solidaritätskundgebungen: Dém., 28.3., 2.4., 4.4., 4.8. und 1.10.90; JdG, 30.5.90; Suisse, 28.6. und 31.10.90; LNN, 12.12.90; TA, 24.12.90. Urteil von Wimrnis (BE): Bund und BZ, 1.6.90; TA, 7.7.90.
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